Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band/Der Stelzenbaum, zweite Sage

Der Stelzenbaum Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band
von Ludwig Bechstein
Die schöne Nixe
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[71]
198.
Der Stelzenbaum, zweite Sage.

Eine ganz andere Sage vom Stelzenbaum lautet: Ein Herrenschäfer hüthete nahe bei Stelzen seine Heerde auf dem abgeärnteten Felde jenes Hügels, als eine Anzahl Bauern von Stelzen auf ihn zuliefen und ihn mit harten Drohworten begrüßten, daß er auf ihrem Felde hüthe, und von den harten Worten kam es zu noch härteren Schlägen, denn die Wuth der Bauern war grenzenlos. Der Schäfer stieß seinen Stab in den weichen Boden, klammerte sich daran, indem er auf seine Kniee fiel und rief: Dieser dürre Stecken soll bezeugen, daß ich that nach meines Herrn Gebot, und nicht, wie ihr sagt, aus eigenem Antrieb, und daß ihr mich Unschuldigen hier zu Tode geschlagen! Grünen soll er und blühen, euch zum Verderben! Noch ein Knüttelschlag, und der Schäfer hörte auf zu leben. Die Mörder flohen. Man hatte des Schäfers Leiche gefunden, aber niemand hatte sich um den Stab gekümmert, der war unbeachtet in der Erde stecken geblieben. Wie der Frühling kam, bestellten die Mörder ihr Feld auf ihrem Hügel, und da sahen sie eine unliebe Erinnerung ihrer Unthat, den Schäferstab, und einer ging hin, den Stab aus der Erde zu ziehen; er zog und zog, aber der Stab folgte seiner Hand nicht, denn er war festgewurzelt, und hatte frische Triebe, die schon ausschlugen. Der Stab war zum Baum geworden, und stand ein Zeuge der Unschuld des Ermordeten. Die Mörder alle nun vernahmen’s und sahen’s, das göttliche Wunder, und erbebten tief im Herzen. Zwar verhehlten sie auch ferner ihre That, aber sie schlichen [72] bleich umher, und in ihrem Innern zehrte der Wurm, der nie stirbt, brannte das Feuer, das nie verlöscht.

Der Stelzenbaum liegt hoch und ist weit sichtbar. Auch erzählt die oft sich abwandelnde Sage noch von ihm, daß einem träumte, er werde auf der Brücke zu Regensburg einen Schatz finden. Als derselbe richtig die weite Reise gen Regensburg gemacht, traf er auf der Brücke einen Bettler an, der erzählte ihm, es habe ihm geträumt, er werde unter dem Stelzenbaum bei Plauen im Voigtland einen Schatz finden. Nun wußte jener genug, ging heim und hob den Schatz unterm Stelzenbaum.

Der Stelzenbaum hat in seiner Gegend eine solche Bedeutung gewonnen, daß man ihn sogar auf Landkarten des Neustädtischen Kreises eigens neben dem Orte Stelzen hinzeichnete, und Stelzenbaum dazu schrieb. Er ist ein wichtiges Seitenstück zu den übrigen grünenden Stabwundern, und am meisten der Sage von der Buche bei Maßfeld verwandt.[1]

  1. D. S. B. 736.