Thüringer Sagenbuch. Erster Band/Die weiße Frau auf Tennberg

Vom Iselberge und Rennsteige Thüringer Sagenbuch. Erster Band
von Ludwig Bechstein
Fische auf Bäumen
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[275]
142.
Die weiße Frau auf Tennberg.

Ueber dem Städtchen Waltershausen erhebt sich das stattliche Haus Tenneberg, ein altes Schloß der Thüringer Landgrafen, noch baulich wohlerhalten und bewohnt. Einst war es Eigenthum und Vatergeschenk des Bastards Landgraf Albert des Entarteten, Apitz, der es aber bald wieder räumen mußte. Die Sage weiß vieles zu berichten von einer weißen Frau, die sich zur Nachtzeit erblicken läßt, hervorwandelt aus einem Thurme, in dem ihr Grab sein soll, und dessen Fenster bisweilen lichthell blinken sollen. Man sagt, diese weiße Frau sei der ruhelose Geist einer geheimnißvollen Fremden, die vor dreihundert Jahren an den Hof Johann Friedrich des Mittleren, Herzogs zu Sachsen kam, und aussagte, sie sei Anna von Cleve, geschiedene Gemahlin König Heinrich VIII. von England, die man zwar für tod ausgab, aber sie sei nicht gestorben, sondern der englischen Drangsal entflohen. Nun soll man aber auf die Vermuthung gekommen sein, jene Fremde sei nicht Anna von Cleve, Englands gewesene Königin, und habe sie auf Tenneberg eingekerkert, sehr übel behandelt, ja gefoltert, bis sie wahnsinnig wurde und sich selbst Teufelsumganges zieh. Sie saß in einem gemauerten Gewölbe des erwähnten [276] Thurmes, und trug ein langes weißes Kleid, und in diesem Thurme soll sie denn auch gestorben sein, und nun umgehen mit vorwurfsvollem Blicke, starrem Schmerz in ihrem erdfahlen Antlitz, eine trauervolle und unheilkündende Erscheinung; auch habe sie dem Hause des Landesherrn ihren Fluch gegeben, der am Herzog Johann Friedrich dem Mittlern sich genugsam durch das traurigste Geschick erfüllte, und fortwirkend haften blieb an jedem „Johann Friedrich“ durch frühen Tod oder Tod im Irrsinn, so daß ein Hausgesetz errichtet ward, diesen Namen nie wieder einem Prinzen beizulegen.