TBHB 1953-07-01
Einführung
Der Artikel TBHB 1953-07-01 zeigt die ungekürzten Tagebuchaufzeichnungen von Hans Brass vom 1. Juli 1953. Diese Aufzeichnungen erstrecken sich über zwei Seiten.
Tagebuchauszüge
[1] Es ist nichts mit dem freien S=Bahnverkehr. Zwar ist seit heute tatsächlich die Sperrung des Verkehrs in den Nachtstunden aufgehoben, aber die Grenzen an den Westsektoren bleiben nach wie vor hermetisch verschlossen. Nach dem letzten Schreiben des russischen Kommandanten an die drei Westkommandanten besteht sogar garkeine Aussicht für eine Oeffnung der Grenzen, da der russische Kommandant darin verlangt, daß die drei Westkommandanten eine Garantie dafür übernehmen sollen, daß künftig keine „Provokateure“ aus dem Westen in den Ostsektor kommen. Da die West=Kommandanten behaupten, daß es solche Provokateure überhaupt nicht gibt, können sie also auch keine derartige Garantie übernehmen. Wie sollten sie das auch können, selbst wenn es Provokateure gäbe? Hier im Osten wird bekanntlich jeder Mensch, der aus der Bundesrepublik kommt, als amerikanischer Agent angesehen. Eine solche Garantie hieße praktisch nichts anderes, als daß die West=Kommandanten ihrerseits jeden Verkehr von West nach Ost kategorisch unterbinden müßten.
Seit neuester Zeit werden nun in allen großen Betrieben Belegschaftsversammlungen veranstaltet,
[2] auf denen prominente SED=Genossen zu den Arbeitern sprechen, um sie zu beruhigen u. ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Da die Regierung tatsächlich ziemlich große Zugeständnisse macht, benutzen die Arbeiter natürlich diese Gelegenheit, um Verbesserungen zu erreichen. Die Erregung u. Unzufriedenheit werden daduch wohl im Augenblick besänftigt, aber die Unzufriedenheit geht heute doch tiefer, als daß sie durch ein paar Zugeständnisse beseitigt werden kann. Die Forderung nach Freien Wahlen ist am 17. Juni zum ersten Male laut geworden u. wird um so weniger verstummen, als die Sperrung der Zonen= bzw. Sektorengrenzen fast jeden einzelnen Arbeiter u. jeden Bewohner des Ostsektors betrifft. Jeder hat Verwandte oder Freunde drüben wohnen u. sehr viele wünschen, drüben Sachen einkaufen zu können, die es hier nicht gibt. Ich, z.B., brauche Zinkweiß um Leinewand grundieren und Farbe anreiben zu können, hier gibt es weder Zinkweiß noch einen Ersatz dafür. Die Leinewand meines jetzigen Bildes mußte ich schon mit Schlemmkreide grundieren, da ich nur noch wenig Zink= bzw. Titanweiß habe, das ich zum Malen benötige. Zum Glück habe ich noch Nägel, sonst könnte ich die Leinewand nicht aufspannen, denn Nägel gibt es hier nicht. Bettinchen bekommt keine Bananen, keine Apfelsinen oder sonst gutes Obst, denn hier gibts nichts, auch Gemüse gibt es nur sparsam u. sehr schlecht. Und so geht es allen, jeder leidet unter der Abschließung u. je länger sie dauern wird, um so unerträglicher wird sie werden. Diese Abschließung aber hängt eng mit der Forderung nach Freien Wahlen zusammen, die Unzufriedenheit darüber wird sich steigern u. es wird zur neuen Explosion kommen, sobald die Russen abgezogen sind. Und immer können sie ja nicht hier bleiben. Magistrat u. Regierung mögen mit Angst dem Tage entgegensehen, wo sie mit ihren Panzern abrücken werden. Vielleicht wird man vorsichtigerweise einige Truppenkontingente hier belassen, so weit man sie unauffällig unterbringen kann. In Zeitungsartikeln findet man Schilderungen von der angeblichen herzlichen Freundschaft zwischen den Berlinern u. den Russen u. es mag in der Tat solche Subjekte geben, die sich dazu hergeben, aber das sind doch nur wenige, es sind die widerlichen Sklavenseelen, an denen das deutsche Volk ja leider nicht arm ist. Ausschlaggebend ist das aber nicht. Die wahre Stimmung des Volkes hört man auf der Straße, u. sie ist anders. – Vor allem ist die ganze KPD. im Bundesgebiet in eine Lage geraten, die dieser Partei bei den Bundestagswahlen im Herbst ja wohl nicht verborgen bleiben wird. –
[3] In Frankreich ist jetzt endlich die Regierungskrise, die 41 Tage gedauert hat, überwunden worden –, oder wahrscheinlich nur pro Forma überdeckt, da Frankreich in dieser ganzen Zeit praktisch nicht verhandlungsfähig war. Die Bermuda-Konferenz mußte verschoben werden, weil Churchil erkrankt ist. Am 10. Juli soll eine Zusammenkunft der westlichen Außenminister in Washington stattfinden, es soll nicht grade ein Ersatz für die Bermuda-Konferenz sein, die später stattfinden soll, aber doch auch wieder ein vorläufiger Ersatz. – Der Waffenstillstand in Korea ist auch noch nicht abgeschlossen, neuerdings ist er sogar sehr gefährdet durch die Obstruktion der Süd=Koreaner, die einen Waffenstillstand nicht wollen. Die Sachen sind ziemlich verwirrt. –
[3] Ich malte heute das kleine Bild zum 17. Juni fertig. –
[3] Rias gibt heute bekannt, daß im Monat Juni 467 Volkspolizisten nach dem Westen desertiert sind. Diese Desertionen haben seit dem 17. Juni verstärkt angehalten u. wurden bis in die letzten Tage fortgesetzt. Es ist das eine sehr beachtliche Zahl, besonders wenn man bedenkt, daß die Grenzen hermetisch verschlossen sind u. es überaus schwer ist, sie zu überschreiten. –