TBHB 1953-06-17
Einführung
Der Artikel TBHB 1953-06-17 zeigt die ungekürzten Tagebuchaufzeichnungen von Hans Brass vom 17. Juni 1953. Diese Aufzeichnungen erstrecken sich über sechs Seiten.
Tagebuchauszüge
[1] Rias brachte gestern Abend einen ausführlichen Bericht über die Vorgänge. Demnach haben die Demonstrationen schon um 10 Uhr vormittags begonnen, zuerst nur von einer kleinen Gruppe von Bauarbeitern der Stalinallee, die sich auf Umzüge in der Stalinallee selbst beschränkten, dann aber rasch anwuchs. Die Demonstranten bewegten sich dann über den Alexanderplatz zum Rathaus u. Unter den Linden, wo die Bauarbeiter an der Staatsoper sich anschlossen. [2] Es ging dann die Linden hinunter nach der Wilhelmstraße, durch diese zur Leipzigerstr. zum Hause der Ministerien, dem früheren Luftfahrtministerium Görings. – zu Zwischenfällen ist es nirgends gekommen, die Polizei war nicht sichtbar. – Heute früh begannen nach der Durchsage des Rias schon um 7 Uhr früh wiederum Unruhen in der Stalinallee am Strausbergerplatz. Heute beteiligen sich daran auch die Arbeiter des Textilwerkes Fortschritt u. Eisenbahner. –
Die Berl. Zeitung bringt heute eine Verlautbarung der Regierung, welche verkündet, daß sie, veranlaßt durch eine „Anfrage“ aus Arbeiterkreisen, befohlen habe, daß erhöhte Normen nicht zwangsweise, sondern nur freiwillig eingeführt werden dürften. Sie nennt die gestrige Demonstration also ein „Anfrage der Arbeiter“.
Gestern Abend wurde im Friedrichstadt=Palast von der Regierung eine Gegendemonstration durchgeführt, auf der Grotewohl, Ulbricht u. Jendretzky sprachen. Zu dieser Veranstaltung kamen hier einige kleine Gruppen zusammengetrommelter Halbwüchsiger u. einiger Funktionäre mit Fahnen vorbei, aber das war sehr dürftig. Die Berl. Ztg. bringt darüber einen ausführlichen Bericht, der jedoch nichts Neues enthält, es sind die alten Phrasen. Grotewohl u. Ulbricht, reden von „Fehlern“, die gemacht worden seien u. nun korrigiert werden müßten. Wenn aber andere Leute „Fehler“ gemacht haben, dann nennt man sie Saboteure u. steckt sie ins Zuchthaus. Die Berl. Ztg. bringt dann im Inneren Teil noch einen Artikel unter der Ueberschrift „Eine ernste Lehre“ – sie ist aber weit entfernt, diese Lehre sehr ernst zu nehmen, denn sie behauptet, ohne auch nur einen Schimmer eines Beweises anführen zu können, daß die ganze gestrige Demonstration durch Provokateure aus dem Westen Berlins angezettelt worden sei, im übrigen, sucht sie die Vorgänge zu bagatellisieren.
Heute sind nun, wie Rias berichtet, in der Stalinallee u. am Strausbergerplatz Volkspolizei eingesetzt, untermischt mit russischen Soldaten, doch verhalten sie sich passiv. Es kommt jetzt darauf an, daß die Demonstranten sich nicht mehr bloß auf die Frage der Normenerhöhung beschränken. Tatsächlich haben sie gestern schon Forderungen gestellt auf Freie Wahlen, auf Herabsetzung der HO-Preise um 40% u. auf Freilassung der Potitischen Gefangenen. Nach Rias sollen heute die Demonstranten diese Forderungen wiederum erhoben haben. Es wird sich jetzt zeigen, ob es den Demonstranten gelingen [3] wird, eine straffe Organisation aufzubauen, nur dann kann eine erfolgreiche Weiterführung möglich sein. –
9,50 Uhr vorm. Rias berichtet, daß ein offenbar kleiner Zug von Demonstranten von der Stalinallee zum Haus der Ministerien gezogen sei. In der Mauerstraße wurden sie von der Polizei aufgehalten, doch hätten die Demonstranten die Polizeikette durchbrochen u. seien zur Leipzigerstraße gelangt. Daraus seien Polizei=Bereitschaftswagen von hinten in die Demonstranten hineingefahren u. hätten von ihren Knüppeln Gebrauch gemacht, die Demonstranten hätten daraufhin mit Steinen einige Fenster des Ministerienhauses eingeworfen.
Aus anderen Betrieben wie Siemens-Plania seien neue Züge anderer Demonstranten im Anmarsch auf Berlin, doch würden sie z. Zt. durch russische Panzer am Weitermarsch gehindert. Siemens-Plania, Henningsdorf und viele andere Betriebe hätten sich mit den Bauarbeitern solidarisch erklärt, neue Demonstrationszüge bewegten sich in Richtung Warschauer Brücke. –
Ein Arbeiter gab im Rias einen Augenzeugen-Bericht der heutigen Vorgänge beim Zug zum Hause der Ministerien der nur aus etwa 500 Menschen bestanden hat – wenigstens bis zur Stunde. Dieser Zug hat überall die zahlreich aufgebotene Polizei durchbrochen. Erst am Hause der Ministerien selbst hat die Polizei, unterstützt von russischen Soldaten, mit Knüppeln geschlagen. Heute lautet die Parole der Demonstranten „Freie Wahlen“ u. „Rücktritt der Regierung“ – Es ist also alles im vollen Gange u. die Regierung ist noch keineswegs Herr der Lage. Sie hat außer der Polizei auch FDJ. aufgeboten, doch wird diese einfach verprügelt u. mit Dreck beschmissen.
11,45 Uhr
Mehrere Tausend Arbeiter kommen eben vorbei von Norden her, marschieren nach Süden, der Kleidung nach vorwiegend Maschinen= u. Eisenarbeiter, aber auch viele andere, sie kommen offenbar aus den nördlichen Industriegegenden wie Borsig, sie kommen durch den französischen Sektor. Schräg gegenüber unserem Hause auf dem leeren Trümmerplatz ist z. Zt. eine Hygiene=Ausstellung, die Demonstranten rissen die dort befindlichen Mastbäume um, sofern sie rote Fahnen trugen u. warfen die Fahnen in eine daneben befindliche Pfütze, denn es hatte vorher stark geregnet. – Ein Lastauto mit jungen Volkspolizisten, bewaffnet mit Karabinern u. in der olivgrünen Uniform kam vorbei, von den Demonstranten mit Pfui u. Gejohle begrüßt. [4] Man ruft: „Wir wollen freie Wahlen“. –
Anni versuchte, einzukaufen u. bekam, mit Not ein Brot, sonst nichts. –
12,30 Uhr
Eben gab Rias eine Reportage der Vorgänge. Es war etwas verworren, da die Aufnahme von der West-Sektorengrenze aus erfolgte, von der Straße aus sodaß sich die Umstehenden einmischten u. Berichte ihrer Erlebnisse gaben. Das war zwar sehr lebendig, aber planlos. Im regulären Nachrichtendienst berichtete Rias, daß nach wie vor neue Massen von Arbeitern nach dem Stadtinneren marschieren, auch hier in der Friedrichstraße hält der Marsch der Arbeiter aus den nördlichen Bezirken an. Am mehreren Stellen haben die Demonstranten Barakken der Volkspolizei in Brand gesteckt, so am Potsdamer Platz. Viele Volkspolizisten sind mit ihren Waffen bereits zu den Demonstranten übergegangen oder sind in den Westsektor geflüchtet. Vom Brandenburger Tor haben die Arbeiter die rote Fahne heruntergeholt u. verbrannt. Die Volkspolizei scheint nur hier u. da mit Knüppeln eingegriffen zu haben. Russische Soldaten u. Panzer sind zwar eingesetzt, aber bisher ohne Tätlichkeiten. – Seit 11 Uhr fährt die S=Bahn nicht mehr, angeblich auf russische Anordnung. Elisab. wird daher so leicht nicht nachhause kommen können. – Anni versucht. Lebensmittel zu kaufen, wir haben alle Behälter voll Wasser. – Am Morgen u. am ganzen Vormittag hat es sehr stark geregnet, seit Mittag hat es aufgehört. – Aus der Provinz hört man bisher garnichts. Der Westberliner DGB. veranstaltet heute Abend am Kreuzberg eine Sympatie-Kundgebung für die Ostberliner Arbeiter.
Ich habe gestern das Bild 6/53 mit dem Kahn einer nochmaligen Ueberarbeitung unterzogen u. es heute fertig gemacht, obwohl ich bei der Arbeit sehr zerstreut war. Ich lasse das Radio dauernd laufen, um nichts zu verpassen.
1,30 mittags
Rias berichtet, daß die Demonstrationen unvermindert anhalten. Arbeiter aus Heninngsdorf, Oberschöneweide, Köpenik marschieren nach Berlin. Ein Arbeiter berichtete von seinen Erlebnissen, danach ist es in der Leipzigerstraße am Vormittag zu Schlägen mit der Volkspolizei gekommen, es soll Verletzte gegeben haben. Es wird eben bekannt gegeben, daß der russische Kommandant von Ostberlin den Ausnahmezustand über Ostberlin verhängt haben soll. In diesem Falle wären dann alle Ansammlungen u. weiteren Demonstrationen von den Russen verboten u. die Russen würden [5] bei Zuwiderhandlung eingreifen. Wenn die Arbeiter nicht zurückweichen, was kaum zu erwarten ist, so bliebe ihnen nur die Ausrufung eines Generalstreiks übrig. Es kommt nun also zur Kraftprobe. Ein Generalstreik würde jedoch nur wirksam sein, wenn auch die Prowinz, vor allem Sachsen, mitmacht. –
Dr. Adenauer hat einen Minsterrat zusammenberufen, um die Lage zu beraten, Bundesmnister Jakob Kaiser ist nach Bln. entsandt worden.
Die BVG. hat den Betrieb eingestellt, es fährt weder Straßenbahn, noch Omnibus noch U=Bahn. Die S=Bahn fährt schon seit 11 Uhr nicht. Elisab. kann also vorerst nicht nachhause kommen, man wird so wie so alle Aerzte dort behalten.
2,15 Uhr
Der Ausnahmezustand ist verhängt. Damit ist die gesamte Macht auf die russischen Militärbehörden übergegangen. Mehr wie drei Personen dürfen nicht zusammen auf der Straße gehen, in der Zeit von 9 Uhr abds. bis 5 Uhr früh darf niemand die Straße betreten. Das alles dürfte kaum dazu beitragen, weder die Russen noch unsere Regierenden beliebter zu machen. Die Machtprobe rückt näher.
Die Landesverbände der großen Parteien Westdeutschlands u. der DGB. haben eine gemeinsame Sympatie=Adresse an die Arbeiter der Ostzone gerichtet. Darin werden fünf Forderungen aufgestellt:
1) Freie, gesamtdeutsche Wahlen
2) Bildung einer gesamtdeutschen Regierung
3) Abschluß eines Friedensvertrages
4) Regelung der territorialen Grenzen
5) Freiheit der dt. Regierung, mit anderen Mächten Verträge zu schließen.
Diese Forderungen sind auch die Forderungen der Ostdeutschen, besonders der Arbeiter. Es wird aber nötig sein, eine Organisation zu schaffen, die diese Forderungen vertritt. Eine solche Organisation konnte aber hier nicht bestehen, sie müßte in Westdeutschland sich aus Ostdeutschen bilden. –
Auf der Straße kehren jetzt die Arbeiter aus dem Norden nachhause zurück. Es ist 3 Uhr. Es gehen aber auch viele Menschen zur Stadt zu. Der Präsident des Berliner Abgeordentenhauses hat für heute Abend 9 Uhr eine außerordentliche Sitzung einberufen. (des west=berliner...)
3,40 Uhr
Eben hörte ich im Berliner Sender nur bruchstückweise eine Proklamation Grotewohl's, der aus der Sicherheit der russischen Bajonette davon spricht, daß die Arbeiter ihre Arbeit wieder aufnehmen sollen u. daß sie die Provokateure [6] nahmhaft u. der Polizei übergeben sollen, die sie zur Demonstration verführt haben, damit diese streng bestraft werden. – Nun, damit dürfte Herr Grotewohl wenig Glück haben. –
4,35 Uhr
Rias will wissen, daß Otto Nuschke, stellvertretender Ministerpräsident der DDR., an der Sektorengrenze am Kreuzberg auf Westberliner Gebiet übergetreten sei u. sich unter den Schutz der dortigen Behörden gestellt hätte.
[6] Zur Zeit säubern russische Panzerwagen die Straßen von Demonstranten. Am Hause der Ministerien in der Leipzigerstraße soll die Volkspolizei auch von der Schußwaffe Gebrauch gemacht haben. – In der Friedrichstraße herrscht Ruhe.