TBHB 1945-12-16
Einführung
Der Artikel TBHB 1945-12-16 zeigt die ungekürzten Tagebuchaufzeichnungen von Hans Brass vom 16. Dezember 1945. Diese Aufzeichnungen erstrecken sich über zwei Seiten.
Tagebuchauszüge
[1] In der Nacht vom Freitag zum Sonnabend fiel mir die Lösung für die linke Seite des Bildes ein. Ich machte aus den drei Kiefern eine einzige, zog diese nach vorn u. machte sie größer. Der ganze Himmel wurde dadurch mit berührt, indem nun eine Licht=Diagonale von links oben nach rechts unten durch das ganze Bild geht, die bisher nur sehr andeutungsweise vorhanden gewesen war. Ich freute mich über die Lösung so sehr, daß ich für den Rest der Nacht nicht mehr viel schlief. Ich konnte es Sonnabend früh kaum erwarten, zum Malen zu kommen. Jetzt sitzt alles sehr gut. Das Bild ist dadurch noch einfacher geworden u. ganz klar.
Seit gestern ist Eisenbahn-Sperre. Kein Mensch kann hier fort u. die fort sind, können nicht zurück. Auch Briefe werden nicht befördert. Man weiß nicht, was das zu bedeuten hat. In Moskau ist eine Konferenz der Außenminister Rußlands, Englands u. Amerikas, die erste Konferenz, seitdem die Außenminister-Konferenz in London, die nach den Potsdamer Beschlüssen stattfand u. nach ziemlich kurzen Zwischenräumen permanent wiederholt werden sollte, ergebnislos aufgeflogen war. Es heißt, daß in Moskau in erster Linie die Atombombe zur Debatte stehen soll, dann die Dardanellenfrage u. Fragen des nahen Ostens, vor allem Persiens, wo innere, offenbar von Rußland geschürte Unruhen ausgebrochen sind, in die sich Rußland nun eingemischt hat. Man sieht, daß die Gegensätze gegenüber Rußland sich noch vermehrt haben u. die vorhandenen sind nicht beseitigt worden. Im englischen Rundfunk ist davon in der Weise die Rede, daß diese Gegensätze zwar zugegeben aber bagatellisiert werden. Auch von einem Kriege gegen Rußland ist in der Weise die Rede, daß die Engländer sagen, wir Deutschen hofften auf einen solchen Krieg, aber er würde niemals stattfinden, da diese Gegensätze sich auf diplomatischem Wege bereinigen ließen. Bisher ist das aber eben nicht gelungen. Hier bei uns, aber auch in Berlin u. sogar in Hamburg, also im englischen Gebiet, ist nun wieder viel die Rede davon, daß die Russen Mecklenburg räumen sollen. Jemand will sogar den Paß eines deutschen Kriegsgefangenen aus dem Westen gesehen haben, der dahin lautete, daß der Gefangene „in das von den Russen besetzte englische Interessengebiet“ entlassen worden sei, nämlich nach Mecklenburg. – Vielleicht hängt, die Reise= u. Postsperre im russischen Gebiet damit zusammen? – Wie groß die Spannungen sind, geht aus einer englischen Radionachricht hervor, nach der eine Konferenz der interalliierten Militärkommission in Berlin stattgefunden hat. Auf dieser Konferenz ist beschlossen worden, daß die Russen keine Kontroll=Kommission in das englische Gebiet senden würden, um sich über die dort befindlichen, immer noch nicht demobilisierten deutschen Armee=Verbände zu informieren. Das Mißtrauen der Russen, das man ja auch hier immerfort spürt, ist also so groß, daß sie eine Kontroll=Kommission nach dem Westen entsenden wollten. Den Engländern hat das natürlich nicht gepaßt. Man hörte hier ja längst schon von merkwürdigen Gerüchten, daß die Engländer tatsächlich dort [2] gewisse Verbände der deutschen Armee in ihren deutschen Uniformen unter Waffen halten; andere sollen englische Uniformen tragen mit dem Worte „Deutschland“ auf dem linken Oberarm. Die Engländer haben das jetzt auch im Rundfunk zugegeben u. haben die Existenz dieser Verbände mit ziemlich fadenscheinigen Gründen erklärt. Die Kriegshoffnungen der Deutschen gründen sich zum Teil auf dieser Tatsache. Die Engländer wissen das. Obwohl sie sagen, daß diese Hoffnungen unbegründet wären, halten sie dennoch diese Verbände weiter unter Waffen. Es ist das sehr merkwürdig.
Die Franzosen sind ebenfalls sehr verschnupft, daß sie nicht zur Moskauer Außenminister-Konferenz zugezogen worden sind. Ferner ist bekannt gegeben worden, daß Belgien sich demnächst an der Besetzung Deutschlands mit zwei Divisionen beteiligen werde. Es erhält dazu Teile im englischen Sektor. Also müssen etwa zwei Divisionen englische Truppen frei werden. Auch Dänemark wollte sich nach früheren Meldungen an der Besetzung beteiligen, doch hat man davon lange nichts mehr gehört.
Gestern war Martha bei Papenhagens u. kam ziemlich erschüttert zurück. Karl Papenhagen habe gesagt, er wolle sich nun seinen eigenen Sarg zimmern. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Der Mann wohnt nun seit 60 Jahren hier u. arbeitete in dieser Zeit in der ganzen Gegend bis Wustrow u. darüber hinaus. Er kennt alle Bauern. Wie ist es möglich, daß er u. seine Familie jetzt schon so hungern, daß der Mann dergleichen sagen kann! Was soll denn da erst im Frühjahr werden? Es müßte dem Mann sehr leicht seien, bei den Bauern zusätzliche Lebensmittel zu bekommen; aber er hat einen dummen Stolz, andere zu bitten. Er kann doch aber unmöglich verlangen, daß die Bauern ihm von selbst etwas bringen.
In dieser Woche hatte Martha viele Auseinandersetzungen mit dem sog. Antifaschistischen Ausschuß, der sich bemüßigt fühlt, für die Flüchtlinge zu Weihnachten etwas zu tun. Anstatt sich nun mit Martha in Verbindung zu setzen, die doch nun seit Jahren hier das Weihnachtsfest sozial organisiert, ist dieser Ausschuß unter Führung von Herrn Dr. Ziel u. Herrn v. Achenbach stur. Sie meinen, die BuStu. sei eine Privatsache, ihre Weihnachts=Aktion aber sei amtlich u. offiziell u. dürfe sich nicht mit Privatpersonen verbinden. Es offenbart sich da der ganze, sture, deutsche Amts=Standpunkt, diese dumme Arroganz beamteter Personen, die zu erhaben über die Fach= u. Sachkenntnisse von Privatpersonen sind, als daß sie sich ihrer bedienen würden. Dabei ist dieser sog. Ausschuß überhaupt garkeine amtlicher Organisation, er maßt sich nur amtliche Eigenschaften an. Der Ausschuß veranstaltet nun für sich eine Sammlung von Geld u. Sachen für Flüchtlinge, d.h., er läßt andere spenden, um sich dann mit dieser Spende dicke zu tun. Die gespendeten Gelder u. Sachen sollen die Flüchtlingen dann möglichst sang= u. klanglos zugestellt werden, denn Frau Burgartz, die mehrfach bei Martha war, um darüber zu reden, meinte, sie sei ein prosaischer Mensch u. habe keinen Sinn für Poesie, d.h. für Weihnachten. So kommt es also, daß Martha nun ihre Weihnachts=Aktion privat für sich allein durchführen wird, ebenso wird der Antifasch. Ausschuß seine Aktion durchführen, u. endlich wird Frau Marie Seeberg noch ein Krippenspiel für sich allein veranstalten. Also ganz deutsch: jeder für sich. –