TBHB 1945-09
Einführung
Der Artikel TBHB 1945-09 zeigt die ungekürzten Tagebuchaufzeichnungen von Hans Brass vom September 1945. Diese Aufzeichnungen erstrecken sich über 18 Seiten.
Tagebuchauszüge
[1] Heute vor sechs Jahren brach Hitler den Krieg vom Zaun. Gestern Nachmittag kam Herold u. teilte mit, daß ein Oberleutant eingetroffen sei, der für 10 Monate hier Quartier haben wolle, u. zwar ein kleineres Haus. Ich fragte, ob der Mann verrückt geworden sei, – ein Zimmer würde ja wohl auch genügen, er möge zu Bernh. Saatmann St. Lukas gehen. Heute morgen erkundigte ich mich. Der Mann hat bei Saatmann ein Zimmer genommen u. ist zufrieden. Derselbe Mann ist gestern auch schon in der Schneiderstube gewesen. Ob es sich um einen neuen Kommandanten handelt, weiß ich nicht, jedenfalls scheint es immer klarer zu werden, daß wir nicht mehr zum Bereich der Infanterie gehören, die nur bis Althagen reicht. Sehr bedauerlich, denn diese Infanteristen sind offensichtlich Feinde der Kosacken. Dr. Meyer, der gestern hier war, erzählte sogar von Schießereien zwischen Kosacken u. Infanteristen in Wustrow.
Bei Bauer Paetow ist Scharlach ausgebrochen. Der Mann ist vom Unglück verfolgt.
Gestern Nachm. Sitzung in der Notgemeinschaft. Herr Bütow will Pantoffeln machen.
Am Montag soll endlich der alte Peters'sche Laden an der Dorfstraße abgerissen werden, nachdem mein Amtsvorgänger gegen Kriegsende den Versuch gemacht hat, eine Notwohnung daraus zu machen, womit er aber nicht zu Rande gekommen ist. Seitdem liegt das Gebäude als Ruine da u. sieht skandalös aus.
[2] Sonnabend Mittags waren zwei Herren von Landratsamt Rostock im Auto hier, der eine von ihnen war Herr Haase, der in Ribnitz Verbindungsmann mit dem Landratsamt ist. Es mußten wieder neue Listen gemacht werden, Termin Sonntag 12 Uhr. Paul u. alle anderen mußten sofort heran, aber sie wurden nicht fertig. Die Listen konnten erst heute früh mit einem Radfahrer nach Wustrow gebracht werden.
Sonntag Morgen vor der Andacht kam der Oberleutnant aus Zingst wieder geritten, der s. Zt. die Razzia gemacht hatte. Er ritt zu Frau Kansi u. ließ mich holen. Als ich hinkam, lag er u. schlief. Ich ging wieder nach hause, hielt die Andacht u. ging dann wieder hin, aber er schlief noch immer. Ich ließ ihm durch Frau Kansi bestellen, er möge mir sagen lassen, wenn er aufgewacht sei. Ich hörte dann nichts mehr von ihm.
Nachmittags waren Martha u. ich bei Frau Longard. Abends kam noch Gretl Neumann u. erzählte von den Wustrower Vorgängen. Herr Brüssow soll zwar, wie er sagt, tatsächlich im Konzentrationslager gewesen sein, aber nicht aus polit. Gründen, sondern wegen § 175. Andere sagen, er sei ein getarnter SS=Mann, der wie so viele andere gegen Schluß des Krieges in ein Konzentrationslager gegangen sei, um sich ein Alibi zu konstruieren.
Spangenberg sollte heute nach Ribnitz, um Lebensmittel zu holen, konnte aber nicht, weil er keinen Passierschein hatte.
Der Kutscher Handschak, den die abziehenden Kosacken bis nach Saßnitz mitgeschleppt hatten, ist zurückgekommen. Er erzählt, daß Rügen voller Kosacken ist. In u. um Saßnitz sind alle Scheunen bis unters Dach vollgepackt mit Möbeln, Wäsche, Kleidern + Koffern, die die Kosacken hier gestohlen haben. Es wird alles nach Rußland transportiert. Handschak will von einem Russen gehört haben, daß alle Kosacken dieser Gegend von Saßnitz aus nach Rußland transportiert würden. Wollte Gott, daß es wahr wäre.
Wustrower erzählten mir gestern die Vorgänge dort. Danach hat der dortige Kommandant eine Ansprache halten wollen u. das ganze Dorf war vor dem Gemeindeamt versammelt. Da der Kommandant aber nicht kam, hat der Bürgermeister Brüssow, der ja früher Schauspieler gewesen sein will, das Volk durch Vortrag eines Hörspiels belustigt. Nachdem das Volk zu seinem Erstaunen aus seinem Bürgermeister einen Harlekin u. Spaßmacher hat werden sehen, kam dann, um das Erstaunen u. die Harlekinade voll zu machen, ein Auto, dem ein Beamter des Landratsamtes entstieg, um Herrn Brüssow zu verhaften. Es heißt jetzt, er habe 2 1/2 Jahre Zuchthaus gehabt u. sei dann 5 Jahre im Konzentrationslager gewesen. Da es sich um Sittlichkeitsvergehen gehandelt habe, sei er entmannt worden. –
Frau Hoppe war vor einigen Tagen bei mir. Ihr Mann ist noch nicht zurückgekehrt, sie selbst sitzt mit ihren beiden Jungens in einer Stube neben ihrem Laden u. sie hat keinen Verdienst als nur die paar Pfennige, die aus dem Verkauf von Magermilch herausspringen, die sie von der Molkerei bezieht. Ich sagte ihr zu, daß sie künftig auch die Butter u. die Eier verkaufen solle, die aus dem Dorfe anfallen u. auch gelegentlich aus der Molkerei. Es ist das nicht viel, aber doch wenigstens eine kleine Hilfe. Ich ahnte dabei aber gleich, daß ich deshalb mit [3] Saatmanns, die diese Produkte bisher verkauft haben, in Differenzen kommen würde. Immerhin sagte ich mir, daß Saatmanns Einsicht haben würden. Der Verdienst aus diesen Dingen ist ja nicht groß u. Saatmanns haben eine ganze Büdnerei mit Kuh, Hühnern u. sehr großem Garten u. Gemüseland, ihre Existenzgrundlage ist mehr als gesichert. – Dennoch ist es gekommen, wie ich gefürchtet habe. Frau Saatmann schimpft. Als ich dem Mann heute begegnete, ging er mit der Pfeife im Munde an mir vorbei ohne meinen Gruß zu erwidern. Die Verächtlichkeit dieser Menschen ist wahrhaftig sehr groß.
Gestern Postkarte von Pfarrer Kolodzieg aus Marlow. Er teilt mit, daß jeden 2. u. 4. Sonntag im Monat um 15 Uhr im Chorsaal der Klosterkirche in Ribnitz hl. Messe stattfände. Ja, wie sollen wir da hinkommen? –
Ebenfalls gestern kam eine Flaschenpost am Strande an, gerichtet an eine Frau Scharmberg in Born von ihrem Mann, der zwischen Trelleborg u. Travemünde hin u. her fährt u. deutsche Soldaten aus Norwegen heimbringt.
Gestern Abend besuchte uns Herr Clemens Prielgauskas, der Inspektor der Frau Schröder, unser Nachbar. Dieser Mann, der hier arbeitet wie ein Pferdeknecht, ist ein sehr vielseitig gebildeter Mann. Er hat das Gymnasium besucht u. das Abitur gemacht u. hat dann eine landwirtschaftl. Hochschule besucht, ist also Diplom-Landwirt. Außerdem aber hat er auch eine Kunstschule besucht, um sich zum Graphiker auszubilden u. schließlich hat er sich in der kathol. Presse aus schriftstellerisch betätigt. Er ist irgendwo in Litauen geboren, wo sein Vater ein kleines Gut gehabt hat, seine Mutter war eine deutsche Baronin, er war aber auch im Kaukasus in Tiflis u. ist auch sonst viel herumgekommen. Ich will versuchen, diesem Mann zu helfen, daß er aus seiner gegenwärtigen Lage herauskommt.
Heute morgen eine sehr schwierige Verhandlung mit den Pferdebesitzern. Es handelte sich darum, Frau Schröder u. Herrn Kämmerer zu bewegen, je ein Pferd an den Bauern Paetow abzugeben u. den Schlachter Leplow desgleichen an Rich. Spangenberg. Eine diesbezügliche Verfügung des Präsidenten von Mecklenbg-Vorpommern, die mir erst heute morgen in die Hände kam, leistete mir dabei große Hilfe, sodaß es mir nach einer einstündigen Verhandlung gelang, zum gewünschten Ziel zu kommen. Paetow freute sich natürlich sehr u. auch Spangenberg war zufrieden, Leplow, Kämmerer u. Frau Schröder mit ihrem Vater Brandt mußten sich wohl oder übel fügen u. taten es schließlich ohne Groll gegen mich. Es war das ein sehr schöner Erfolg, den ich kaum erwartet hatte.
Frau Saatmann ist gestern in Ribnitz gewesen in der Absicht, Herrn Reichert gegen mich aufzuhetzen, was ihr bis zu einem gewissen Grade gelungen zu sein scheint. Einen weiteren Erfolg scheint sie aber nicht gehabt zu haben denn sie soll sich geäußert haben, daß sie zum russ. Kommandanten gehen wolle. Heute morgen war der Mann Saatmann bei mir, benahm sich aber ganz vernünftig, wenn auch sehr zurückhaltend. Er teilte mir mit, daß er von Herrn Reichert gehört habe, es würden nun wieder alle Lebensmittel u. a. Waren durch die Grossisten angeliefert, wie das früher war. Er, Saatmann, würde demnach [4] künftig seine Waren wieder von Reichert beziehen u. Frau Hoppe von ihrem Grossisten in Rostock. Es wäre das ja sehr schön u. Frl. Neumann brauchte dann nicht mehr einzukaufen.
Die Pferdeangelegenheit hat nun doch noch ihren Haken bekommen durch Herrn Brandt. Als Paetow das Pferd von Frau Schröder abholen wollte, verweigerte Brandt die Herausgabe. Frau Sch. kam mit Paetow ins Amt u. bat, das Pferd noch bis Montag behalten zu dürfen. Ich war der Meinung, daß dies geschehe, um irgendwie die Sache rückgängig zu machen, da Frau Sch. keinen vernünftigen Grund für ihre Bitte abgeben konnte, jedoch versprach sie mir auf Ehrenwort u. mit Handschlag, daß das Pferd am Montag zur Verfügung stehen werde. Es wurde dann auf dieser Grundlage eine Einigung erzielt. – Später traf ich Herrn Clemens, den Inspektor von Frau Sch. u. nachher auch Herrn Brandt, die beide sehr gemessen grüßten. Herr B. entwickelt eine große Tätigkeit mit Fahren nach Dierhagen usw., es ist offensichtlich, daß er irgendwie die Absicht hin, hinterher doch noch quer zu treiben. Frau Sch. will nach Rostock zum Landrat.
Helm. Saatmann war bei mir mit der erfreulichen Absicht, die Angelegenheit mit der Butter wieder in Ordnung zu bringen. Ich freute mich sehr darüber u. versicherte ihm, daß für mich bei dieser Sache nur der Gedanke maßgebend war, der armen Frau Hoppe zu helfen. Aus diesem Grunde könnte ich die Sache auch nicht mehr rückgängig machen, bis das Geschäft von Frau Hoppe wieder in Gang käme u. sie genug verdiente. Ich würde ihr dann gern den Butterverkauf wieder übergeben. Herr S. sagte mir, daß er seine Frau zu mir schicken werde, damit die Sache gütlich beigelegt werden kann.
Heute wollten Küntzels endlich in das Kroog'sche Haus umziehen. Dabei stellte sich heraus, daß die Frau Futterlieb den Küchenherd mitgenommen hat, den sie früher einmal aus dem Sudeckschen Hause erhalten hat. Sie behauptet nun, daß sie deshalb einen Anspruch auf den Herd hätte. Damit entpuppt sich Frau F. nun als eine Person, die mit allen Mitteln ihre Rechte zu wahren weiß, auch wenn ihr die Rechte nicht zustehen. Wir müssen nun erst sehen, wie wir den Herd wieder zurück bekommen. Küntzels können deshalb heute noch nicht umziehen u. ich kann infolgedessen immer noch nicht in meine eigenen Zimmer.
Es hat sich nichts Besonderes ereignet außer dem täglichen Kram an Verfügungen, die ungeheuerliche Ausmaße annehmen. Der russ. Kommandant, bzw. die Kommandanten in Rostock u. in Ribnitz betreiben die Einbringung der Ernte mit Hochdruck. Es ist erstaunlich, welche Eile diese Leute haben, sodaß man den Verdacht hat, sie werden nicht mehr lange hier sein u. sie wollen die Ernte mitnehmen. Täglich sind Meldungen über den Fortgang der Ernte, über die Verwendung der Pferde usw. zu machen, daneben Bevölkerungszählungen noch u. noch nach immer neuen Gesichtspunkten. Dabei sind die Verfügungen oft derart unklar ausgedrückt, daß man nicht weiß, was die Leute eigentlich wollen.
In der kommenden Woche lasse ich Listen auflegen, in die jeder eintragen soll, ob er zu Rostock oder zu Barth gehören will, denn es ist immer noch nicht entschieden, wohin wir nun eigentlich gehören. Dieser Zustand ist unhaltbar u. muß geklärt werden.
Herr Dr. Ziel scheint gegen mich zu hetzen.
[5]Gestern Vormittag erschien wieder der undurchsichtige Oberleutnant aus Zingst. Ich besprach mit ihm die neuerlichen Schwierigkeiten mit unserem Kosackenabtlg., die nicht aufhört, Brot zu entnehmen u. die neuerdings zwei russ. oder poln. Mädchen im Kurhaus untergebracht hat, welche die Kleider der Verwandten von Frau Neumann tragen u. sich sehr frech benehmen. Die Kosacken benutzen die Sielengeschirre unserer Pferdehalter, sodaß die Pferde nicht arbeiten können. – Der Oberleutnant sagte mir, ich solle den Wustrower Kommandanten um Schutz bitten u. außerdem wolle er den Kommandanten von Prerow benachrichtigen. – Heute morgen erzählen die Frauen in der Schneiderstube, daß der kleine Sergeant, der ein ekelhafter Kerl ist, große Reden hält. Er sagt, daß er dem Bürgermeister Anzüge u. Radio abholen würde u. auch sonst im Dorfe räubern würde. Die Russen nennen das „zappzerapp“. Es wird vielleicht gut sein, wirklich nach Wustrow zu fahren.
Gestern Nachmittag waren Martha u. ich bei dem Ehepaar Mazurek, die aus Berlin gekommen sind. Herr Mazurek ist Katholik u. war vormittags bei der Andacht. Sie erzählten wenig Erfreuliches aus Berlin. Es gab aber Pflaumenkuchen, echten Tee u. eine Art nachgemachter Schlagsahne.
Am Radio hörte ich gestern wenigstens teilweise eine Ansprache unseres Bischofs Konrad von Berlin über den Domkapitular Lichtenberg u. seinen Martyrertod. Lichtenberg wird bestimmt der erste Heilige der Diözese Berlin werden.
Es scheint dicke Luft in Ahrenshoop zu sein. Herr Dr. Ziel scheint eifrig weiter gegen mich zu stänkern, obgleich Martha wiederholt bei ihm war u. die Dinge besprochen hat. Es scheint sich jetzt um die Notgemeinschaft zu handeln. Herr Ziel hat zu Martha darüber allerhand gesagt u. ich habe ihn deshalb schriftlich gebeten, die Angelegenheiten zu untersuchen u. mir schriftlich Bericht zu erstatten u. notfalls Besserungsvorschläge einzureichen. Bisher hat er darauf nicht geantwortet. Heute Morgen begleitete mich Herr Wiethuchter ins Amt u. sagte mir Aehnliches. Er meinte, daß Herr Ziel gegen mich arbeite u. anscheinend auch wieder Herr Budde. Herr Ziel soll heute nach Ribnitz gefahren sein, vielleicht, wie Herr W. sagt, um auch dort gegen mich zu arbeiten. Herr W. meint, diese Leute hätten sich bereits auf einen anderen Bürgermeister geeinigt u. ich solle Gegenmaßnahmen treffen. Ich lehnte das ab. Ich sagte zu Herrn W., daß ich froh wäre, wenn ich dieses Amt los würde u. wieder malen könnte. –
Ich habe einen Beschlagnahme=Ausschuß eingesetzt der künftig über alle Beschlagnahmungen beschließen soll. Er wird heute Nachmittag erstmalig tagen. Ich habe Herrn Budde in diesen Ausschuß gesteckt, damit er was zu tun hat. Heute morgen traf ich ihn u. er erzählte mich hocherfreut, daß er Nachricht von Herrn Jesse erhalten habe, der in Lübeck sei, er hoffe, bald hierher kommen zu können. Im Moment, wo er das sagte, wußte ich, daß Herr Jesse der neue Kandidat für den Bürgermeisterposten sein wird. Ich glaube in der Tat, daß Herr Jesse sich dafür sehr gut eignen würde, – es fragt sich nur, ob er es machen wird. Ich nehme an, daß er mehr daran interessiert [6] sein wird, sein Lebensmittelgeschäft in Rostock wieder aufzubauen. Aber wenn er will, trete ich gern zurück.
Herr Dr. Ziel hat mir per Brief mitgeteilt, daß er die Prüfung der Notgemeinschaft, um die ich ihn gebeten habe, erst vornehmen könne, wenn er von einer Reise nach Sachsen, die er in beruflichen Angelegenheiten zu machen habe, zurückgekommen sei. Es werde das etwa in 14 Tagen sein. Es will also offenbar mit Gewalt wieder Landgerichtspräsident werden.
Heute ziehe ich nun wieder in meine Zimmer. Das Schlafzimmer ist bereits fertig eingerichtet, das Arbeitszimmer werde ich heute nach dem Dienst einrichten. Trude hat mit Meyers meine Sachen vom Atelier herübergebracht.
Herr Haase, der Verbindungsmann zum Landratsamt in Ribnitz, war heute hier. Er versprach, von nun an öfters zu kommen, um uns zu helfen.
Am Freitag wurde plötzlich die Schlagbaum=Sperre am Ausgang des Dorfes nach Althagen zurück verlegt an die Wegegabel beim Erbhofweg. Es mußte dort eine neue Wachbude errichtet werden, wofür wir eine Bude der Fischer nahmen am Strom. Die Straße ist jetzt am Erbhofweg zu u. es hat gleich großen Krach mit den Kosacken gegeben, die mit ihrem Kutschwagen durchfahren wollten u. nicht durchgelassen wurden. Später sind sie dann aber doch durchgelassen worden.
Bei den Kosacken scheint dicke Luft zu sein. Es heißt, daß der sog. Kommandant u. sein Sergeant abgelöst werden sollen. Vorgestern versuchten die beiden, ihre Weiber, die sie im Kurhause untergebracht haben, anderwärts in Privatquartieren unterzubringen, doch ist ihnen das bisher nicht gelungen. –
Gestern Nachmittag bei Küntzels zum Tee in ihrem neuen Quartier im Kroog'schen Hause. Prof. Triebsch u. seine Frau waren gleichfalls da. Grete war vielleicht noch unverbindlicher wie sonst u. Pauls Gesundheit läßt zu wünschen übrig, sodaß der Nachmittag nicht besonders schön war.
Die Russen treiben mit Hochdruck die Ernte ein u. bedrohen die Bürgermeister mit Haftbefehlen wegen Sabotage. Dabei bekommt man dauernd sich widersprechende Anordnungen u. Termine, die längst verstrichen sind.
Heute morgen kam Heinr. Dade u. bestellte, daß Trude ins Krankenhaus gekommen sei zur Beobachtung. Sie war gestern schon zuhause geblieben, nachdem sie bereits am Sonnabend nicht wohl war.
In meinen Zimmern bin ich nun so weit eingerichtet, daß ich mich dort wohl fühle, – es ist eine große Erleichterung. Ich komme wieder zum Lesen.
Am Sonnabend sprach mich Dr. Ziel auf der Straße an u. teilte mir mit, er habe soeben die Nachricht erhalten, daß für ihn ein hoher Posten in der sächs. Justizverwaltung reserviert sei, jedoch wisse er noch nicht, ob er ihn annehmen werde. Dieser eitle Mensch jappst seit dem Mai nach seiner Präsidenten=Stellung beim Landgericht in Chemnitz u. nun tut er schämig wie ein junges Mädchen. Aber es ist schrecklich, wie nun all diese Stellungen besetzt werden mit Mümmelgreisen zwischen 60 – 70 Jahren. Die Russen haben nun Verwaltungen eingesetzt für alle Zweige der Wirtschaft u. der sozialen Ordnung u. überall sitzen Mümmelgreise darin, weil man den jungen Leuten nicht traut. Daraus kann ja nichts Gutes werden. – Ebenso ist es mit der Bodenreform. [7] Es ist ja gut, wenn man endlich mit diesen ostelbischen Junkern, diesen Brutstätten des Militarismus, aufräumt; aber wenn man nun innerhalb von knapp 3 Wochen die großen Güter aufteilen will in lauter kleine Büdnerstellen von 5 ha Größe, dann kann dabei nichts herauskommen.
Gestern sandte der Kommandant von Wustrow alle Passierscheine zurück, es wären, ließ er sagen, hinfort keine Passierscheine mehr nötig. An der neuen Sperre am Erbhofweg war tatsächlich der Posten eingezogen, der Schlagbaum war hoch. Darauf ging das Gerücht, die Russen zögen ab. Heute dagegen hat der Kosacken=Häuptling im Monheim'schen Hause seine Sperre zum Darss verstärkt, er läßt niemand zum Darss durch. Die Körkwitzer Sperre dagegen ist auf u. man kommt ohne Passierschein nach Ribnitz. –
Gestern Nachmittag kam es zu erneutem Krach mit Dr. Ziel, der sich zum Anwalt von Langhinrichs machte, welcher Schwierigkeiten mit der Milchablieferung macht. Es wurde ganz deutlich, daß Dr. Ziel voller Gift u. Haß gegen mich ist. Er hat dieses Gift jetzt einige Tage zurückgehalten, nachdem Martha nach dem letzten Zusammenstoß sich sehr um einen friedlichen Ausgleich bemüht hatte, aber gestern brach das aufgestaute Gift mit Gewalt hervor. Nun ist es endgültig aus mit ihm. Er wird für Langhinrichs eine gepfefferte Beschwerde über mich einreichen, der ich aber mit Gelassenheit entgegensehen kann.
Eben haben wir die alte Frau Friedrichs begraben. Es war sehr starke Beteiligung, Pastor Löber sprach am Grabe. Sie wurde neben ihrem Mann beigesetzt, der vor 17 Jahren am Magenkrebs starb. Mit Frau F. ist ein gutes Stück Ahrenshooper Vergangenheit dahingegangen.
Gestern Abend waren Paul + Grete da. Paul sagte mir, was ich schon lange erwartet habe, daß er seinen Dienst im Gemeindeamt aufgeben wolle. Ich bat ihn wenigstens noch bis zum 30. 9. weiterzumachen. Seine Hilfe im Amt ist doch sehr wertvoll, wenngleich er auch schon längere Zeit ohne Interesse arbeitet u. dadurch seine Arbeit recht beeinträchtigt wird, ja, teilweise sogar nicht gut ist, da er sich mit der Zeit immer weniger mit den Leuten versteht. Er ist im ganzen Dorf überaus unbeliebt, weil er alles nach Schema F erledigt u. auf die Eitelkeiten der Leute nicht eingeht. Seine Arbeit ist sehr sachlich, d.h. aber auch, daß sie sehr unpersönlich ist, so wie es in einem berliner Polizeibüro selbstverständlich ist. Dort gibt es keine persönlichen Beziehungen. Hier aber wollen die Menschen individuell behandelt werden, vor allem diejenigen, welche von sich glauben, daß sie etwas Besonderes wären. – Das Schlimmste dabei ist, daß auch Dr. Hahn sich mit der Absicht trägt, nach Berlin zurückzukehren. Seine Sekretärin aus seinem ehemaligen Büro ist hier. Sie hat sich vom Westen hierher durchgeschlagen u. will ihn wohl bewegen, nach Berlin zu kommen. Ich würde dann plötzlich ohne jeden verantwortlichen Mitarbeiter sein, denn Herr Degner kann als solcher nicht gelten. – Die Arbeit im Amt ist ja in der Tat recht schwierig u. unerfreulich. Die Leute im Landratsamt wissen oft selbst nicht, was sie sollen u. geben unklare Anweisungen oder oft undurchführbare Anweisungen.
Unsere Trude liegt schon seit 4 Tagen im Krankenhaus [8] in Wustrow, wo sie am Blinddarm operiert ist. Wir haben bisher nicht gehört, wie es ihr geht.
Gestern Abend ging die Aufregung schon los. In der Schneiderstube bei Martha drängten sich die Russen. Borchers holte mich vom Friedhof, wo ich bei der Beerdigung von Frau Friedrichs war. Der unheimliche Oberleutnant aus Zingst war wieder da, wollte aber auch nur in die Schneiderstube. Die Russen drängten, sie wollten ihre Sachen haben u. verlangten, daß heute den ganzen Sonntag durchgearbeitet werden sollte. Es macht ganz den Eindruck, als wollten sie abrücken.
Spät Abends kam noch ein Bote aus Wustrow mit der Nachricht, daß heute um 1/2 2 Uhr in Ribnitz eine Versammlung sämtlicher Bürgermeister stattfände, betr. Ablieferung der Ernte. Der russ. Kommandant würde zugegen sein. Ich schickte zu Dr. Hahn, er solle mich vertreten. Heute früh kam Borchers u. sagte, daß Dr. Hahn schwer erkrankt wäre u. daß in der Nacht Spangenberg seine beiden Pferde gestohlen worden seien. Bald darauf kam die kleine Tochter Hahn u. berichtete, der Vater hätte 40° Fieber, Prof. Reinmöller habe seine sofortige Ueberführung ins Krankenhaus angeordnet, die Mutter sei ebenfalls erkrankt u. auch eins der Kinder. Prof. R. fürchtet Diphteritis. – Vor der Andacht kam die alte Mutter von Frau Kahl u. sagte, daß Herold, der gestern mit seiner Geliebten abgefahren ist, ihr das ganze Holz gestohlen hat. – Nach der Andacht erschien Pfr. Kumpf, der aus Ribnitz herübergekommen war, um die Reste seiner von den Russen ausgeplünderten Sachen zu holen. Er war wenigstens ruhig u. gelassen, wie es sich für einen alten Gottesmann geziemt. Eben war Frau Pilster da, die ich gestern Abend sehr angeschnauzt habe, weil sie ihre sämtlichen Lebensmittelkarten verloren hatte u. schrecklich heulte. Nun hat ein anständiger Mensch die Karten gefunden u. ihr gebracht. – Meine Ansprache in der Andacht war bei all dem, wie ich glaubte, wenig konzentriert, aber die Protestantin Frau Ranke, die Tochter der verstorbenen Frau Kraus, bedankte sich nachher besonders, weil meine Ansprache heute so gut gewesen sei. – Wir Menschen können eben mit all unserer Armseligkeit nichts. – Gott muß uns helfen, sonst sind wir alle verloren. –
In der letzten Nacht sind drei Kerle in russ. Uniform, einer davon ein Sergeant, mit vorgehaltenen Revolvern bei Borchers eingedrungen u. haben die Taschenuhren gestohlen, die bei B. zur Reparatur waren. Drei davon gehörten mir. Dieselben Kerle sind auch bei Liebers u. bei Spangenberg gewesen, haben dort aber nicht gestohlen. Ich habe sofort Meldung beim Landratsamt gemacht u. energisch um Hilfe gebeten, da sich solche Dinge häufen.
Gestern hieß es im Berliner Radio, daß die osteuropäische Normalzeit im russ. Gebiet eingeführt sei, nachdem bisher die osteurop. Sommerzeit in Geltung war. Nachdem die Engländer u. Amerikaner schon am 16. Sept. die Mitteleuropäische Normalzeit eingeführt hatten, bestand eine Differenz von zwei Stunden zwischen dem östl. u. westl. Besatzungsgebiet. [9] Dieser blödsinnige Zustand sollte nun gestern ein Ende finden; aber der noch blödsinnigere russ. Sergeant befahl, daß die bisherige Zeit weiter gelten sollte. Nachdem nun aber die Post bei sich Normalzeit eingeführt hat, werde ich von mir aus einfach anordnen, daß die Uhren im Dorf um eine Stunde zurückgestellt werden. –
Zwischen Russen einerseits u. England-Amerika andererseits ist wieder Stunk. Die Botschafterkonferenz, die momentan in London tagt u. den Frieden vorbereiten soll, ist sich nicht einig, ob die Regierungen von Ungarn, Rumänien u. Bulgarien, die unter russ. Einfluß stehen, demokratisch sind oder nicht. England-Amerika bestreiten es u. wollen mit ihnen keine Friedensverhandlungen führen, aber Molotow behauptet, sie wären demokratisch, dagegen sei die griechische Regierung, die unter engl.=amerikan. Einfluß steht, nicht demokratisch. Die Konferenz war über diesen Streitfall zwei Tage lang unterbrochen, heute soll sie wieder weitergehen.
Aus Wustrow höre ich, daß der jetzt dort tätige Bürgermeister gegen das saubere Freundespaar Harder=Brüssow energisch vorgegangen ist. Sie sind beide in Untersuchungshaft. Besonders bei Harder soll reichlich Diebesgut gefunden worden sein, auch vieles von dem, was der Kerl hier in Ahrenshoop gestohlen hat.
Gegen 1/2 4 Uhr nachm. erschien ein Auto, dem ein Mann in Civil mit einer jungen Dame entstieg, sowie zwei bewaffnete Soldaten. Der Mann, der eine so unheimliche Gestalt hatte, daß mir bei seinem Eintritt das Blut stockte, nahm mir gegenüber Platz, die Dame saß seitwärts. Schweigen. Dann begann er mit lauerndem Blick allerhand Fragen nach der Größe des Ortes, ob ich hier ansässig wäre, wie lange, ob ich Parteimitglied gewesen sei usw. Die Dame übersetzte. Dann fragte er nach einer Liste der Flüchtlinge im Ort. Ich gab sie ihm. Er deutete mit dem Finger anscheinend auf Namen, die auf einem Stück Papier standen, das er in den Händen hielt u. die Dame suchte sie in der Liste vergeblich. Ich bat ihn, mir doch die Namen zu nennen, die er suchte, ich würde sie ihm zeigen. Er fragte, ob ich einen Herrn Brass kennte. Ich sagte, daß ich das selber wäre. Er wollte wissen, was ich von Beruf sei, ob ich verheiratet sei, wie meine Frau hieße u. ob ich Kinder hätte. Ich gab Auskunft, betete aber während der ganzen Zeit ein Ave Maria nach dem anderen.
Dann fragte er nach Herrn Küntzel. Ich sagte, er sei mein Schwager u. hülfe mir im Amt als mein Sekretär. Da er hörte, daß er, Küntzel, aus Berlin sei, wollte er wissen, warum er nicht auf der Flüchtlingsliste stünde. Offenbar hatte er den Verdacht, daß er dadurch verborgen werden sollte. Er fragte auch nach seinem Beruf u. seiner Familie. Dann fragte er nach Wollesen. Ich sagte, daß dies der Mann meiner Nichte sei, er sei Offizier gewesen, jetzt aber verschollen.
Sodann sollte ich Küntzel rufen. Paul ging es wie mir, auch er wurde bleich, als er diesen Mann sah. Er gab auf Befragen an, früher Offizier gewesen zu sein, nach dem Kriege sei er Polizeioffizier gewesen u. habe 1934 den Abschied genommen. Während des Krieges habe er in der Techn. Nothilfe gearbeitet, aber es war schwer, dem Mann zu erklären, was das ist. Er behauptete, es sei Polizei u. Paul sei SS u. alles, was Paul sonst sagte, sei gelogen. Er rief einen der bewaffneten Soldaten herein, der draußen [10] vor der Tür Wache gestanden hatte u. bedeutete ihm durch eine Handbewegung, Paul abzuführen. Paul war sehr beherrscht. Er ging ruhig mit, nachdem er mir noch die Schlüssel übergeben hatte, stieg in's Auto. Der Russe drohte mir, indem er meinte, ich hätte doch gewußt, daß Paul zur SS gehörte. Dann ging er.
Ich saß wie erschlagen. Dann ging ich zu Grete u. teilte ihr das Vorgefallene mit. Auch sie war sehr gefaßt, obgleich sie furchtbar aufgeregt war. –
Es ist grauenhaft, daran zu denken, daß Paul das Gleiche jetzt durchmachen soll wie der ehemalige Zöllner Nülken, der ebenfalls 6 Wochen lang in Barth verhaftet war u. grade eben von dort zurückgekommen ist. Der Mann hat 6 Wochen lang mit anderen Gefangenen zusammen in einem Keller gesessen. Das Essen bestand aus einer Wassersuppe mit Kartoffeln u. Brot. Er ist in diesen 6 Wochen nur einmal kurz verhört worden, wobei sich dann herausstellte, daß garnichts gegen ihn vorlag. Er ist dann entlassen worden u. er mußte zu Fuß von Barth hierher zurückgehen. Er sieht natürlich erschreckend elend aus. Paul würde eine solche Strapaze keinesfalls aushalten. – Das Unheimliche dabei ist, daß mir selbst jeden Tag dasselbe passieren kann.
Je mehr ich es überlege, um so klarer wird es mir, daß diese ganze Geschichte ihren Ursprung in dem ehemaligen Wustrower Kommandanten haben wird. Dieser Mann ist mir von Anlang an mit unverhohlenem Hass begegnet; aber so gern er es gewollt hätte, hat er mich doch nie angreifen können. Es kam dann diese Frau Hartmann aus Berlin zurück, die besonders mit Erika Wollesen verkehrt hatte u. der Erika wahrscheinlich zuviel anvertraut hat. Diese Frau hatte in Berlin Dr. Hoffmann getroffen, der von hier geflohen war u. der vom Kommandanten verfolgt wurde. Der Kommandant hat Frau Hartmann, die im Lukas wohnte, im Auto morgens früh abgeholt u. sie erst Abends zurückgebracht – oder gar erst am nächsten Tage –, ich weiß es nicht mehr genau. Es hieß, er sei mit ihr nach Berlin gefahren, um Dr. Hoffmann zu suchen. Ich glaube das zwar nicht, aber sicher ist, daß dieser Kommandant sich auffällig mit Frau Hartmann abgegeben hat u. daß Dr. Hoffmann dabei eine Rolle spielte. Es ist immer die Methode der Russen, alle Leute, deren sie irgendwie habhaft werden, auszuhorchen, u. so wird es auch mit Frau Hartmann gewesen sein. Sie mag dann, um sich Vorteile zu verschaffen, allerhand über Wollesen erzählt haben – u. wohl auch über Paul, über den sich Erika sicher oft bei Frau H. beklagt haben mag. Und so ist dieses Netz gewebt worden. Vielleicht ist auch Herr Nülken während seiner Haft in Barth darüber verhört worden. In jedem Falle hatte der Mann es gestern auf drei Namen abgesehen. Brass, Küntzel u. Wollesen. An mir hatte er offenbar das geringste Interesse. –
Gestern Abend war ein Fuhrmann aus Ribnitz hier, der Kartoffeln brachte. Er erzählte, es seien etwa 30.000 Russen durch Ribnitz gezogen von Westen nach Osten. Gestern Abend kam noch um 10 Uhr der kleine Sergeant von Monheim mit seiner Liebsten u. verlangte, daß ein Mantel, der für das Mädchen gemacht wird, anprobiert würde, damit er heute fertig würde. Die Kosacken im Monheim-Hause packen jedenfalls ihre Sachen. Heute Nacht um 2 Uhr mußte Handschak, der Brandt'sche Kutscher mit seinen Pferden losfahren in Richtung Born u. auch die Paetow'schen Pferde wurden heute morgen geholt. Auch die Infantristen in der Batterie sollen im Aufbruch sein, aber es heißt, es kämen [11] dafür neue Kosacken. Jetzt eben um die Mittagszeit sehe ich auf der Dorfstraße unbekannte Infanteristen gehen u. drüben vor Lukas hält ein Wagen, bei dem ein Infantrist steht. Es scheint da ein Offizier zu sein, der bei Saatmann ist.
Heute früh habe ich Herrn Kühme gebeten, vorläufig im Gemeindeamt auszuhelfen. Herr Dr. Meyer sagte mir gestern Abend auf der Straße, daß es Dr. Hahn sehr schlecht ginge, er habe Diphteritis u. sein Zustand sei sehr ernst.
Es sind heute sehr viele Leute ins Amt gekommen, die mir in sehr herzlicher Weise ihre Sympatie zum Ausdruck brachten. Es hat mich doch gefreut. – Frl. Neumann hat mit Freunden in Barth telephoniert, die vielleicht in der Lage sind, Paul Essen zu besorgen.
Gestern Karte von Else aus Völpke, alle leben noch, ihr Haus steht. Ebenso Karte von Otto Wendt, der Nachricht von Fritz hat, aber von sich selbst schreibt er nichts. Fritz geht es demnach gut, er ist immer noch in Freiburg.
Gestern kam neue Infanterie nach Althagen, ein Leutnant mit 35 Mann. In Wustrow ebenfalls neue Infanteristen. Diese neuen Leute machen einen guten Eindruck, viele sprechen deutsch. Der Schlagbaum am Erbhofweg mußte aber wieder neu errichtet werden, ebenso die Wachbude. Die Kosaken im Monheim'schen Hause sollen heute abrücken, dieses Kommando scheint aufgehoben zu werden, jedenfalls soll der Pferdestall abgerissen werden.
Ich will heute eine Beschwerdeschrift an den Antifaschistischen Ausschuß in Ribnitz abgehen lassen wegen Paul. Herr Kühme brachte mich auf diese Idee, denn Grete war heute im Amt. Sie ist natürlich überaus bekümmert. Dieser antifaschist. Ausschuß macht sich ja anheischig, die Behörden u. Betriebe von Faschisten zu säubern, vielleicht sieht er seine Aufgabe auch positiv in dem er Antifaschisten schützt.
Herr Kühme teilte mir Nachmittags mit, Herr Deutschmann habe ihm erzählt, daß die Dolmetscherin in Ribnitz zu irgend wem gesagt habe: „Morgen wird ein SS=Mann aus Ahrenshoop abgeholt“. Es seien drei Leute aus Ahrenshoop zu dieser Zeit in Ribnitz gewesen: Herr Dr. Ziel, Herr Budde u. Frau Bertsch. – Frau Kahl ist gestern mit dem Dampfer aus Berlin zurückgekommen. Sie hat Martha erzählt, daß sie auf dem Dampfer Herrn Dr. Ziel getroffen habe, welcher zu drei anderen Personen, die sie nicht gekannt hat, gesagt hat, ob sie schon wüßten, daß man Küntzel abgeholt hätte. Das ist immerhin merkwürdig, da Herr Ziel ja garnicht hier war, als das mit Küntzel geschah, er war verreist u. kam erst mit Frau Kahl zurück. Woher wußte er es also? –
Die Monheimer Kosaken sind heute nachmittag abgezogen. Jetzt eben um 6 Uhr war ein blutjunger Unterleutnant hier mit einem Soldaten, der etwas deutsch konnte. Er zieht mit 20 Mann Infantrie ins Monheim'sche Haus u. fragte mich über die Kosaken aus. Ich sagte ihm, daß bei Spangenberg die Pferde gestohlen worden seien u. bei Borchers Uhren. Er machte sich Notizen. Morgen um 10 Uhr will er wiederkommen u. darüber ein Protokoll aufnehmen.
An den Antifaschistischen Ausschuß in Ribnitz habe ich heute einen Bericht geschickt über Pauls Verhaftung u. Abschrift davon an den Landrat. Ich habe mich beschwert, daß von den Russen jeder Denuntiation nachgegeben wird, wodurch schließlich jede Arbeit stillgelegt wird. Wer kann von mir u. meinen Mitarbeitern verlangen, daß wir uns solcher Gefahr aussetzen!
Heute früh um 8 Uhr erschien bereits einer von den neuen Soldaten u. überbrachte mir ein Schriftstück das ich unterschreiben sollte. Es handelte sich, wie mir der Soldat sagte, um eine Meldung wegen der bei Spangenberg gestohlenen Pferde u. wegen der bei Borchers gestohlenen Uhren.
Leider müssen wir nun für das neue Kommando erneut [12] 20 Betten mit Matratzen stellen u. ich weiß nicht, wo ich sie hernehmen soll, nachdem diese Kosaken das Dorf ausgeräumt haben.
Gestern Abend waren wir bei Grete. Es ergab sich, daß sie noch nichts unternommen hatte, um Erika zu verhindern, hierher zurückzukehren. Ich sagte ihr mit aller Schärfe, daß eine Rückkehr nicht in Frage käme, – ich hätte ja von Anfang an verlangt, daß Wollesen sich hier nie in Uniform sehen ließe. Das erste Mal hat er sich auch danach gerichtet, aber bei seinem zweiten Besuch leider nicht.
Gestern Nachmittag wurde ich durch einen Soldaten zum Monheim'schen Hause gerufen, es sei der Major dort. Der Major war ein sehr soldatisch aussehender Mann von etwa 40 Jahren, eher jünger. In seiner Begleitung war ein sehr unsympatisch aussehender jüngerer Offizier mit lauerndem Blick, der mich dauernd beobachtete, u. ein sehr junger Arzt, außerdem der junge, stotternde Leutnant unseres Kommandos. Der Major gab mir die Hand, wobei er sogar aufstand. Er verlangte von mir, daß ich ihm sofort aufschreiben sollte, was alles von den Kosaken gestohlen worden war. Ich bekam Bleistift u. Papier. Er ging mit seiner Begleitung fort u. ließ mich allein mit dem Soldaten, der mich geholt hatte u. der etwas deutsch sprach. Dieser sollte das, was ich geschrieben hatte, russisch übersetzen. Ich schrieb auf, was mir im Augenblick grade einfiel. Nach einer Weile kam der Major zurück. Da ich noch nicht fertig war, wartete er geduldig. Darauf sagte er mir, daß er der Kommandant der ganzen „Insel“ von Zingst bis Ahrenshoop sei u. daß ich seinen Weisungen zu folgen hätte. Er wollte dann leere Häuser wissen, aber nicht im Dorf, sondern nach dem Darss zu. Ich zeigte ihm das letzte Haus, in dem es freilich sehr wüst aussah. Es kam daher für ihn nicht in Frage. Inzwischen waren seine beiden sehr einfachen Pferdewagen, mit denen er aus Zingst gekommen war, – Wagen, wie sie Fleischer zum Ausfahren von Waren in den Städten gebrauchen, nachgekommen. Er sagte etwas zum Leutnant u. verabschiedete sich, indem er dem Leutnant die Hand reichte, mich aber stehen ließ, ohne mich weiter zu beachten. Dann aber fiel ihm wohl ein, daß er mich vergessen hätte, er kehrte um u. gab auch mir zum Abschied die Hand.
Ich ging mit dem Leutnant u. dem Soldaten zurück. Am Monheim'schen Hause sagte er mir, daß das Haus Linkenbach bis heute um 12 Uhr geräumt sein müsse. Der Leutnant ist sonst sehr nett, ebenso seine Soldaten, aber sie holen jeden Tag 9 ltr. Milch von Paetow. Ich habe versucht, ihnen zu erklären, daß das nicht geht, aber erfolglos. –
Herr Dr. Ziel ließ mir gestern durch das Sekretariat seinen Bericht zugehen über seine Verhandlungen in Schwerin u. in Rostock. Heute ließ er mir auf demselben Wege eine Einladung vom „Kulturbund“ zugehen, mich an einer Kunstausstellung zu beteiligen, die im November in Schwerin stattfinden soll. Ich werde mich da gern beteiligen u. hoffe, daß bis dahin Gemeindewahlen waren. Bis dahin will ich mein Amt noch behalten, aber dann mag es ein anderer machen, ich habe mehr als genug.
Aus dem Bericht über das, was Dr. Ziel in Schwerin gesehen hat u. mehr noch aus dem, was er mündlich erzählt hat u. was mir Frau Schuster weitergab, geht zur Genüge die trostlose Hoffnungslosigkeit hervor, in der wir uns befinden. In Schwerin sollen nach Dr. Z. die Läger voll liegen von Lebensmitteln, da die Russen alles aufspeichern, u. das Volk hungert. Es soll dort gewaltige Mengen von Butter geben, aber sie ist ranzig geworden u. verdorben u. wird jetzt zu Seife verarbeitet. Wir haben schon seit 3 Tagen kein Brot mehr, weil die Russen in Ribnitz nichts herausgeben, – u. so ist es überall.
Heute am Spätnachmittag mußte ich nochmals ins [13] Amt, da ich dummerweise mit Ribnitz telephoniert hatte, – wir haben seit etwa 10 Tagen wieder Telephon –, aber es gibt außer Behörden niemanden, mit dem man telephonieren könnte, weil die Russen alle Apparate weggeschleppt haben. Von Ribnitz wurde mir gesagt, daß der Ausschuß für Bodenreform sofort zusammentreten solle u. eine Liste von Leuten aufstellen solle, die gerne Land haben wollen. Ich ließ also den Ausschuß zusammentrommeln, aber es erschienen von den 7 Mitgliedern nur zwei. Wir machten drei Leute namhaft, die wir nicht fragten, ob sie wollten, weil dazu keine Zeit war. Diese Liste soll bis Montag 8 Uhr morgens in Ribnitz sein.
Später kam Frl. Neumann dazu u. brachte Nachricht, daß wir Kartoffeln u. Salz bekommen. Salz haben wir seit dem März nicht mehr gehabt, wir kochen alles mit Seewasser, um Salzen zu können. Bei dieser Gelegenheit erzählte sie, daß sie heute in Ribnitz gehört habe, daß der russ. Kommandant angeordnet hätte, alle Besitzer großer Güter sollten bis Montag ihre Besitzungen geräumt haben. Die Güter sollten bis Montag an landlose Leute aufgeteilt werden. Es ist kompletter Wahnsinn.
Wir verhandelten mit Frl. Neumann u. Frau Leplow über Schlachtung u. Fleischverkauf. Außer mir war noch Herr Kühme u. Frau Schuster zugegen. Ich saß dabei u. sprach kein Wort, weil ich einfach das Interesse für diese Dinge nicht mehr aufbringe. Ich fragte mich im Stillen, mit welchen Recht ich als sog. Bürgermeister überhaupt noch dabei saß. Ich bin da völlig überflüssig.
Abends zuhause erzählte mir Martha von einem höchst unerfreulichen Besuch der Herrn Dr. Ziel. Auch war ein Brief von Dr. Hahn aus den Krankenhause in Wustrow gekommen, der anscheinend bei hochgradigem Fieber geschrieben war u. dessen Sinn ich nicht verstehen konnte. Der arme Kerl wird Glück haben, wenn er lebend davon kommt. Oder Pech? –
Ich erwäge sehr ernst, ob ich das Amt niederlegen soll. Die Aufforderung, mich an einer Kunstausstellung zu beteiligen, ist vielleicht ein Wink. – ? –
Gestern Abend die Möglichkeit meines Rücktritts mit Martha besprochen, die den Gedanken sehr begrüßte. Auch sie hat sich nun ja endlich die große Plage der Russen=Schneiderei u. der Notgemeinschaft vom Halse geschafft, nachdem sie die Notküche bereits vor 14 Tagen eingestellt hat. –
Heute Morgen brachte Borchers die Nachricht, daß bei Paetow ein Kalb gestohlen worden ist, sowie mehrere Säcke Kartoffeln. Die Spuren des Kalbes weisen deutlich nach Althagen, die Kartoffeln dagegen scheinen bei den neuen Leuten im Monheim'schen Hause gelandet zu sein. Es ist ja verständlich, da die Leute nichts zu essen haben u. da es bei uns auch kein Brot gibt. Die Leute scheinen ebensowenig Nachschub zu haben, wie die Kosaken u. so müssen sie stehlen, wenn sie leben wollen.
Seit Tagen gehen hier Gerüchte um, die nicht verstummen wollen. Gerüchte gibt es seit dem Mai viele, aber diesmal ist dieses Gerücht besonders hartnäckig, denn viele wollen es in irgend einer Zeitung gelesen haben. Da es schon lange keinen Strom am Tage gibt u. Zeitungen selten herkommen, erfährt man ja nichts. Es heißt da, es sollten die Deutschen Grenzen von 1937 wieder hergestellt werden. Das ist allerdings schon vor Kriegsende, wenn ich nicht irre, in Sa. Franzisko, gesagt worden u. ich habe es selbst im engl. Sender gehört. Danzig u. der ehem. Korridor sollen polnisch werden, alles [14] Land östlich davon russisch. Auch das ist ungefähr früher schon mal im engl. Sender gesagt worden. – Sodann heißt es, daß Deutschland auf 20 Jahre besetzt bleiben soll, jedoch sehr dünn, 2 Soldaten auf je 1000 Einwohner. Brandenburg, Niederschlesien u. Berlin sollen ganz ohne Besatzung bleiben, in Berlin soll nur die interalliierte Kontrollkommission bleiben. Norddeutschland soll ganz von England besetzt werden, Süddeutschland von Frankreich. Deutschland soll auf 70 Jahre keine eigene Wehrmacht haben dürfen, ferner soll auf 2 Jahre in Deutschland niemand heiraten dürfen u. für 2 Jahre soll ein Alkoholverbot bestehen. Die Gefangenen sollen alle entlassen werden, wer bis zum 31.12.45. nicht zurückgekehrt ist, gilt als verschollen.
Heute Mittag habe ich zum ersten Male geheizt, es war gestern besonders kalt. Wenn wir sehr sparsam sind, werden wir mit dem noch vorhandenen Koks für diesen Winter ungefähr reichen.