TBHB 1944-11-14
Einführung
Der Artikel TBHB 1944-11-14 zeigt die ungekürzten Tagebuchaufzeichnungen von Hans Brass vom 14. November 1944. Diese Aufzeichnungen erstrecken sich über zwei Seiten.
Tagebuchauszüge
[1] Am 8. November schwieg der Führer u. es wurde auch sonst von keiner Stelle der Partei Notiz genommen von diesem Tag. Am Sonntag den 12. Nov. fand die Vereidigung des Volkssturm in ganz Deutschland statt. Am Sonntagfrüh hörte man im Radio, daß der Führer eine Proklamation erlassen hätte, – aber was ich auch dann nicht schon am Sonntag hätte wissen können, wenn ich mit in Prerow zur Vereidigung gewesen wäre, das ist, daß diese Volkssturm-Vereidigung die vom 8. Nov. auf diesen Sonntag verlegte, nationale Feier bedeuten sollte, denn davon ist m. W. in Prerow nichts gesagt worden. Das wußten die Bonzen in Pommern auch nicht, wie sie auch noch nichts von der Führerproklamation wußten. Diese las man erst am Montag in der Zeitung u. man erfuhr, daß sie von Heinrich Himmler in München in Verbindung mit der dortigen Volkssturm-Vereidigung verlesen worden ist.
Diese Proklamation ist ein umfangreiches Schriftstück, dessen Verlesung mindestens eine Stunde gedauert hat. Nicht Goering verlas sie, auch nicht Goebbels, sondern Himmler. Man hat den Eindruck, als sei sie rasch improvisiert worden, nachdem man bemerkt hat, wie niederziehend auf die Partei u. das ganze Volk Hitlers Schweigen gewirkt hat. Dieser Eindruck wird noch unterstrichen durch eine gleichzeitig erschienene Notitz des DNB, in der gesagt wird, daß alle Gerüchte über eine Erkrankung des Führers falsch seien, derselbe befinde sich bei bester Gesundheit. –
In der Proklamation selbst versichert der Führer, daß er infolge vieler Arbeit keine Zeit zum Reden habe. – Nun, dieses umfangreiche Schriftstück abzufassen muß immerhin sehr viel mehr Zeit beansprucht haben, als seine Verlesung. Oder hat er es überhaupt nicht abgefaßt? – sind die Verfasser vielleicht Goebbels u. Himmler?
Inhaltlich ist diese Proklamation erschreckend leer. Der Verfasser derselben unternimmt es mit keiner Silbe, irgendwelche Zukunftshoffnungen zu erwecken. Es wird mit keinem Wort zu erklären versucht, wie es diesem Volkssturm möglich sein soll, den alliierten Panzern erfolgreich entgegenzutreten, nachdem dies die Wehrmacht nicht kann. Es wird nicht gesagt, wieso der Westwall u. die von Frauen u. Mädchen im Osten hergestellten Panzergräben die zu erwartende Offensive der Gegner aufhalten soll, nachdem der Atlantikwall das nicht gekonnt hat. Es wird nicht gesagt, womit wir künftig verhindern wollen, daß eine Stadt nach der anderen in Schutt u. Asche sinkt u. alle Verkehrswege vernichtet werden. Aber es wird erzählt, daß unsere Niederlagen im Osten die Folge des Verrats unserer Verbündeten gewesen seien, obwohl jedermann weiß, daß es umgekehrt ist. Weil wir in entscheidender Stunde unterlegen sind, sind unsere Verbündeten von uns abgefallen. Und unsere Niederlage im Westen wird dem erstaunten Zeitgenossen als Folge der Generalsrevolte vom 20. Juli bezeichnet, obgleich in demselben [2] Schriftstück abermals die Geschichte aufgetischt wird, daß diese Revolte die Sache eines ganz kleinen Kreises von Offizieren u. Politikern gewesen sei.
Dann aber fühlt der Verfasser sich veranlaßt, die grausame u. entehrende Hinrichtung durch den Strang zu rechtfertigen, indem er sagt, es habe sich dabei weniger um ein Attentat gegen das Leben des Führers, als um ein Attentat gegen die heilige Sache des deutschen Volkes gehandelt, u. er erklärt mit kalter u. verblüffend unverschämter Stirn, daß er, der Führer, sich stets äußerst großmütig gegen seine politischen Führer verhalten habe, insbesondere gegen Sozialdemokraten. Eine solche Behauptung verschlägt einem freilich den Atem. Es scheint also, als hätte es in Deutschland niemals Konzentrationslager gegeben, oder wenn doch, als wären diese nur Wohltätigkeitsanstalten. – Man weiß nicht, ob man sich über die Unverschämtheit einer solchen Behauptung mehr wundern soll, oder um die Würdelosigkeit, mit der dieser Kerl jetzt bei den Sozialdemokraten u. Kommunisten um gutes Wetter bettelt. – Das ist der Inhalt dieser Proklamation, die als einziges Positivum sonst noch auf Mussolini, auf Salaszi, den Ungarn, auf Dr. Tiso, den Slowaken u. auf den kroatischen Führer hinweist u. natürlich auf unsere tapferen Verbündeten, die Japaner. Was die uns aber helfen sollen, übeläßt er der Fantasie des Lesers. –
Heute wurde nun bekannt, daß unser letztes Schlachtschiff „Tirpitz“ sein Leben ausgehaucht hat. Es ist nach mehreren Explosionen gekentert, nachdem es drei Volltreffer von Sechstonnen-Bomben bekommen hat. Erich Seeberg wird kaum noch Hoffnung haben, seinen Sohn Bengt wiederzusehen. Ich bin gespannt, wann man den Verlust dieses Schiffes dem Volke mitteilen wird. –
Heute endlich etwas besseres Wetter, sodaß ich die Dahlien rausnehmen konnte. Sehr anstrengend. –
Am Montag Bleistiftstudie für eine neue Landschaft: Meeresküste. – Am Montag Abend bekam ich einige Farben u. Pinsel von Herrn v. Perfall aus Berchtesgaden, endlich auch Mastix-Firnis. – So viele Farben wie jetzt habe ich in meinem Leben noch nicht besessen.
Abends kam Erika Schimpf-Seeberg. Erich Seeberg ist wegen Bengt ganz fassungslos, er fällt von einem Weinkrampf in den anderen. Es tut mir außerordentlich leid. Von diesem Mann, der nie ein Opfer gebracht hat u. immer nur seinem persönlichen Vorteil gelebt hat, wird nun das Opfer seines Sohnes verlangt. Es ist hier sehr das Walten Gottes spürbar. – Es ist kaum Hoffnung, daß der Sohn gerettet sein könnte. Von der 1200 Mann starken Besatzung sollen sich etwa 80 Mann gerettet haben. Da die Katastrophe sich am Sonntag-Vormittag ereignete, muß Bengt als Pfarrer auch an Bord gewesen sein. Uebrigens ist der Verlust des Schiffes – allerdings in einer abschwächenden Form, – heute von deutscher Seite zugegeben worden. – An der Liegestelle der Tirpitz bei Tromsoe war überhaupt keine Flak vorhanden, nur die eigene Schiffsflak war tätig, sie fiel aber nach dem ersten Volltreffer aus. Das Schiff liegt jetzt kieloben auf dem Grunde des Fjordes, der Kiel ragt aus dem Wasser.