TBHB 1936-06-28
Einführung
Der Artikel TBHB 1936-06-28 zeigt die ungekürzten Tagebuchaufzeichnungen von Hans Brass vom 28. Juni 1936. Diese Aufzeichnungen erstrecken sich über sechs Seiten.
Tagebuchauszüge
[1] Tage – Buch.
Heft 10.
begonnen: 28. Juni 1936
beschlossen: 23. November 1936.
[2] Johannes Braß:
Tagebuch. (Heft 10)
begonnen 28. Juni 1936
beschlossen 23. November 1936.
[3] Sonntag, den 28. Juni 1936.
[3] Seit einer Woche bin ich in Ahrenshoop. Am letzten Montag bin ich gleich nach der Frühmesse gefahren, war Mittags hier. Fritz holte mich von Rostock mit dem Auto ab.
Maria traf ich, wie ich gefürchtet hatte, in recht ungünstigem Zustand an, außerdem war sie stark erkältet. Sie tat das Klügste was sie machen konnte u. blieb am Dienstag u. Mittwoch im Bett liegen. – Dieser erste Eindruck war nicht sehr freundlich. Hinzu kam noch, daß ich selbst Nachts schlecht schlief; aber vom Donnerstag an besserte sich alles langsam. – Ich selbst gehe nicht auf die Straße, höchstens in den Hintergarten im übrigen bin ich in meinem Zimmer, das mir Maria unter Aufbietung großer Kräfte sehr nett, behaglich u. angenehm hergerichtet hat, sodaß ich dort gut arbeiten kann, was ich auch fleißig tue.
Heute waren wir zur Frühmesse in Müritz, frühstückten bei den Schwestern u. gingen dann noch in's Hochamt. Fritz fuhr uns hin u. zurück, je eine Stunde. Im großen Haus, das Maria wieder verpachtet hat, wohnt eine junge Dame, ein Frl. Stumpe, die Katholikin ist u. die wir mitnahmen. Es stellte sich heraus, daß sie ebenfalls Konvertitin ist, in Bln. bei Dr. Pinak konvertiert hat vor drei Jahren. Sie hat irgendwas studiert, ich weiß aber nicht, was sie treibt, es wird sich mit der Zeit schon herausstellen, da sie noch einige Wochen hier bleibt.
Ahrenshoop ist schlecht besucht, was vermutlich auf die mangelhafte Führung der Gemeindegeschäfte in den letzten Jahren zurückzuführen ist. – Mittags waren wir heute bei Frau Bertsch, die hier eine Pension betreibt, eingeladen, wo wir sehr gut aßen.
[4] Für den Ort ist der schlechte Fremdenbesuch zwar sehr nachteilig, für mich selbst ist die damit gegebene Stille äußerst angenehm. Wenn man nichts mit den Sommergästen u. den sonstigen Leuten zu tun hat, läßt es sich hier wirklich sehr gut leben, – nur ist es schade, daß Müritz so weit entfernt u. der Weg dorthin teilweise überaus schlecht ist.
Die neue Oberin in Müritz ist eine schon betagte, sehr feine Frau mit einem feinen Gesicht u. schönen Händen, die aber offenbar sehr in sich gekehrt u. sehr ernst ist. Es ist nicht leicht, mit ihr ein Verhältnis zu bekommen, obschon sie sicher ein sehr gehaltvoller Mensch ist. Wir entbehrten daher sehr das warmherzige u. offene Wesen der Schw. Lioba, vor der man nicht so übermäßig viel Respekt zu haben braucht, wie vor dieser. Der Herr Rektor, der auch eine Weile bei uns war u. der mir in seiner fröhlich-frischen Art so sehr gefällt, sagte uns, daß der Wechsel bedingt sei durch Vorschrift des Ordens, daß aber Schw. Lioba in absehbarer Zeit wieder nach Müritz zurück kommen würde. Die jetzige Oberin ließ auch erkennen, daß es ihr auf ihrem bisherigen Posten in Neu=Brandenburg, wo jetzt Schw. Lioba ist, besser behagt hätte, als hier in Müritz. So wird also dieser Tausch wohl nicht von Dauer sein.
Eigentümlicherweise kann ich nicht in Ahrenshoop sein, ohne zu fühlen, daß mich doch ein gewisses Heimatgefühl mit diesem Orte verbindet. Zehn Jahre habe ich hier gewohnt, vier Jahre war ich Gemeindevorsteher dieses Ortes, u. es ist eine ganze Masse hier, was ich gemacht, geschaffen u. eingerichtet habe. Ich habe der Gemeinde einen anständigen Bürgersteig gepflastert, habe teilweise Wege ausgebaut u. gut hergerichtet, habe an die 100 Bäume gepflanzt, habe der Gemeinde ein großes Grundstück mit einem Gemeindehaus gekauft u. letzteres eingerichtet, für die Schule habe ich moderne Schulbänke beschafft usw. – das sind doch alles Dinge, die nun weiterleben u. die mich grüßen, wenn ich komme. Am Wesentlichsten aber ist, daß ich in den ersten Nachkriegswintern, in denen ich hier allein u. abgeschlossen ein Einsiedler-Dasein führte, bereits den Grund gelegt habe zu meinem heutigen Glaubensleben. Ich wußte es damals nicht, – ich suchte u. grübelte, – ohne zu finden, – bis ich's aufgab u. mich in weltliche Unternehmungen stürzte, Marias Geschäft „Die Bunte Stube“ einrichtete u. nachher die Gemeinde führte. Und dann kam der große Rückschlag, – der Autounfall, das monatelange Schmerzenslager, Lückes tragischer Tod u. ein Sommer voll seelischer Qual u. Ungewißheit. – Damals wußte ich nicht, was ich wollte, – nur fort, – fort von hier, – von allem fort! Und so kam ich nach Berlin u. zu P. Albertus u. zum göttlichen Heiland, der mich in Seine liebenden Arme nahm u. mich nicht mehr los ließ. –
Ich weiß heute zu genau, daß alles u. jedes, selbst das Geringste und Unscheinbarste meines Lebens mit Wissen u. durch Fügung Gottes geschehen ist u. es ist unmöglich, daß es nicht auch in Zukunft so sein sollte. Deshalb ist es ganz töricht, sich darüber Gedanken zu machen, was in der Zukunft sein wird, es wird genau so sein, wie Gott es will u. um so vollkommener, je weniger ich durch eigenes Tun Gottes Absichten störe. Aber grade deshalb ist es nötig, hellhörig u. feinfühlig zu sein, um auf das leiseste Zupfen Gottes am Rockärmel sofort zu reagieren u. Ihm zu folgen. Es ist nötig, daß ich mich offen halte jedem leisen Wink. Und so ist es ja zweifellos ein Wink [5] Gottes, daß ich jetzt wieder hier sein darf u. wohl ziemlich lange bleiben werde. Was Gott damit bezweckt, weiß ich ja nicht u. das kann mir ja auch gleichgültig sein, Hauptsache ist nur, daß ich nicht innerlich träge bin, sondern daß ich alles begreife. –
Ich begreife nun, daß dies ein Ort ist, der manches von meinem Wesen an sich trägt, was mich grüßt. Ich begreife auch, daß besonders die einfachen Leute, für die ich in meiner Amtszeit hier u. da etwas tun konnte, mich gern haben u. mich freundlich begrüßen u. ich begreife auch, daß die besseren Einheimischen, oder gar die Villenbesitzer, im Bogen um mich herumgehen u. mich ebenso mißtrauisch u. gar feindlich behandeln, wie in meiner Amtszeit. Bei diesen erfreue ich mich keiner Sympatie. – Was mir also hier entgegenkommt, das ist diese sehr rauhe Natur, die Bäume, die sich nur mühsam gegen Wind u. Wetter behaupten u. die einfachen, kleinen Leute, die sich ebenso mühsam durchschlagen, wie die Bäume. Was mir hier entgegenkommt, das ist eigentlich dasselbe, was mich aus dem wohlhabenden Westen Berlins nach dem Osten getrieben hat, es ist meine Liebe zu allem, was ein schweres, mühsames Leben hat, während die satte Behaglichkeit des Reichtums mich abstößt.
Nun sehe ich in diesem Jahre mehr als früher die Verworfenheit dieses satten Behagens der sogenannten reichen Leute. Ich habe immer, auch in meiner Amtszeit, eine große Abneigung gehabt gegen diese Sommergäste, war aber gerade in meiner Amtszeit dazu verurteilt, für das Wohlergehen u. die Genußsucht gerade dieser Menschen zu sorgen. Ich tat es mit Freude nur insofern, als dadurch die Einheimischen Geld verdienten u. sie dadurch ein besseres Leben hatten. Indessen war der Erfolg davon nur der, daß auch sie durch höheren Verdienst moralisch geschädigt wurden, nicht zum Wenigsten durch die Unmoral u. Genußsucht der Sommergäste.
Ich erkenne heute, daß dieses ein falscher Weg war. Den richtigen Weg hat mir der göttl. Heiland gewiesen in Seiner Bergpredigt. Er nennt die Armen, die Hungernden u. Dürstenden selig. Er weiß, daß es den Armen schlecht geht u. er könnte ihnen helfen, indem er weiter fortfuhr, das Brot wunderbar zu vermehren u. alle satt zu machen. Aber er tut es nicht. Er verweist sie auf die Demut, auf die Geduld, u. er nennt sie selig, wenn sie demütig u. geduldig sind, – nicht, wenn sie satt, reich u. übermütig sind.
Heute Mittag klagte Frau Bertsch über die schlechte Saison u. meinte, daß dies nicht so wäre, wenn ich hier noch Gemeindevorsteher wäre. – Ich dachte dabei an den Heiland u. Seine Bergpredigt u. daß ich niemals mehr meine Kraft anstrengen würde, daß diese Leute Geld verdienen. Das ist es nicht, was diese Leute brauchen. Viele würden mich gewiß gern wieder als Gemeindevorsteher sehen, weil es ihr materieller, irdischer Vorteil ist, – wie bei der wunderbaren Brotvermehrung. Aber dazu bin ich heute nicht mehr zu gebrauchen.
Nun aber: ist es vielleicht meine Aufgabe, den Leuten hier anderes zu bringen?
Ich entsinne mich, daß ich, als ich noch in Friedenau wohnte, einmal einen ähnlichen Gedanken gehabt habe u. daß ich mich vor diesem Gedanken entsetzte. Ich hatte, damals große Furcht, Gott könne von mir verlangen, daß ich in dieser Gegend hier den Glauben an Ihn verbreiten solle u. ich bat Gott, Er möge solches nicht von mir verlangen.
[6] Nun hatte ich vorgestern Nacht einen Traum. Es gibt hier einen abseits gelegenen Hügel, um den die Wünsche meines Freundes Lücke kreisten, – er wollte ihn gern kaufen, um sich darauf ein Häuschen zu bauen. Später hat er sich am Fuße dieses Hügels erhängt.
Ich träumte, daß ich die oberste Fläche dieses Hügels mit einer sehr hohen Steinmauer umzogen hätte. Innerhalb dieser Mauer u. an derselben hatte ich eine kleine Kapelle errichtet mit einem Eingang von außerhalb der Mauer, und einem anderen Eingang innerhalb der Mauer. An die Kapelle anschließend u. mit der Rückwand an die Innenseite der Mauer angelehnt waren Zellen, d.h. es war nur eine einzige Zelle dort, nämlich für mich selbst, aber daran anschließend waren noch mehrere gedachte Zellen für andere Menschen. –
Hat mich Gott am Arm gezupft? Ich weiß es nicht. – Ich weiß nur, was ich sehe. Und ich sehe das Elend dieser Leute hier. Im benachbarten Dorf Althagen gibt es am Hafen eine Schänke, es ist eine einfache Bretterbude u. man sagt mir, daß sie von Dreck strotzt. Die Leute nennen sie treffend „Die Giftbude“ – u. diesen Namen hat sich die Schänke dann selbst zugelegt. In der Schänke verkehren von den Einheimischen solche Leute, denen man nicht weit über den Weg trauen mag, – u. dazu gesellen sich gewisse Damen der sogenannten Gesellschaft, die als Sommergäste hier sind, dazu entsprechende Herren. Von dieser üblen Gesellschaft werden unablässig andere verführt, an diesem gemeinen Treiben, das die ganzen Nächte hindurchgeht, teilzunehmen, – schwache Menschen, die im Kern nicht schlecht sind, aber nun ganz schlecht gemacht werden. –
Man hat das Wort aufgebracht: „Religion ist Opium für's Volk“. – Nun gut! – Machen wir's doch wie jene Schänke die sich auch ganz schamlos mit dem Worte selbst nennt, das ihr der Volksmund als Namen gegeben hat: „Giftbude“. Mag die Religion auch Opium für's Volk sein, so ist doch Opium ein Gift, welches seine gute u. segensreiche Seite hat. Meine Kapelle im Traum mag dann ruhig eine „Giftbude“ sein, wenn sie nur als Gegengift jenes Gift der Giftbude am Hafen unschädlich macht. –