Textdaten
<<< >>>
Autor: Ernst Wichert
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Sylvesterspuk
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 852–855
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[852]
Sylvesterspuk.
Ein Nachtstück von Ernst Wichert.


Es war am Sylvesterabend. Die Uhr in dem Thurm der alten Aegidien-Kirche am Hauptmarkt hatte bereits mit dem ihr seit Jahrhunderten eigenen feierlichen Tempo elf geschlagen. – Auf den Straßen war es ganz still. Wer auf dem Ball oder mit guten Freunden zusammen am Familientische lustig in das neue Jahr hinüberzuschwärmen gedachte, hatte sich schon längst unter Dach gebracht. Auch wer in den Wein- oder Bierstuben seinen Kreis gefunden, wechselte nicht leicht mehr den Platz. Es gab, wie der Wächter ganz richtig bemerkte, keine stillere Nachtstunde im ganzen Jahr als diese letzte.

Die arme Marie war allein zu Hause, und sie hatte die Verpflichtung wach zu bleiben, bis die Herrschaft zurückkehren würde.

Vor wenig mehr als einem Jahr hieß sie ganz allgemein nur die hübsche Marie, und seitdem war sie sicher noch hübscher geworden, denn sie stand in dem Frühlingsalter, in dem auch bei solchen jungen Menschenkindern „alle Knospen springen“ und täglich sich neue Reize entfalten; aber die wenigen, die jetzt von ihr sprachen, nannten sie die arme Marie. Und das hatte auch guten Grund.

Die „hübsche Marie“ war die Tochter eines kleinen Beamten, den aber jeder brauchte. Bezifferte sich daher auch sein Gehalt nur auf eine unbedeutende Summe, so liefen doch nebenher allerhand Spesen ein, die zusammengenommen dasselbe weit überstiegen, sodaß er in seiner Art ein Haus machen konnte, ohne gerade, wie man zu sagen pflegt, „über seine Verhältnisse zu gehen“. Und weil er meinte, daß man doch nur einmal lebe und zunächst immer an die Gegenwart zu denken habe, der Extraverdienst auch nicht ausreiche, um davon ein namhaftes Capital anzusammeln, und „die Sache nun einmal so im Gange“ sei, so beschwerte er sich lieber gar nicht mit Ersparnissen, bewohnte ein hübsches Quartier, hielt einen Dienstboten, ließ Frau und Kinder in den besten Kleidern paradiren und hatte jedem Sonntagsgast etwas vorzusetzen. Das bildhübsche Mädchen zog, ohne es zu wollen, viel junges Volk aus den besseren Ständen an. Es war so leicht, in dem Hause Zutritt zu erhalten, und es ging da immer so ungezwungen lustig zu! Vielleicht fand sich auch einmal Einer, der’s ernst meinte. Von einem Gewissen, der in Kurzem schon auf eine gute Anstellung rechnete, hatte sie’s ganz bestimmt geglaubt. Er hatte ihr sogar seine Photographie geschenkt. Daß er mit dem einen Beine ein wenig lahmte, wollte sie ihm schon gern vergeben.

Die Herrlichkeit hatte unerwartet rasch ihr Ende erreicht. Den noch jungen und rüstigen Vater warf eine schwere Krankheit plötzlich auf’s Bett nieder. Ein Rückfall verschlimmerte sie, da er sich nicht schonte, um größere Einbußen in seinem Einkommen abzuwenden. Nach einigen Monaten voll Angst und Sorge wurde er nach dem Friedhof hinausgetragen. Das Begräbniß war „erster Classe“; das glaubte die Familie seinem Andenken bei den zahlreichen Bekannten und Freunden schuldig zu sein. Aber die Kosten verschlangen den größten Theil des Nachlasses. Der Wittwe blieb eine ganz unzureichende Pension. Die jüngeren Kinder mußten bei mildherzigen Leuten untergebracht werden, Marie war „alt genug“, sich ihren Unterhalt selbst verdienen zu können.

Es traf sich auch so glücklich, sie in einem vornehmen Hause als „Jungfer“ unterzubringen. Sie hatte da zwar auch die leichteren Dienste eines Stubenmädchens zu verrichten, aber der gnädigen Frau auch bei der Toilette behülflich zu sein und Abends den Thee einzuschenken. Sie war im Nothfall Vorleserin und besorgte Einkäufe, es gehörte zu ihren Pflichten, stets gut angezogen zu sein, um sich neben ihrer Herrin auch auf der Straße zeigen zu können. Sie führte kein bequemes Leben, aber sie zählte doch nicht geradehin zum Gesinde und durfte nach außen hin wenigstens den Schein wahren, eine junge Dame zu sein. Darauf legte sie großes Gewicht. Sie war vielleicht nicht eitler, als sonst hübsche Mädchen zu sein pflegen, aber sie hätte doch nicht einen Mann heirathen mögen unter dem Stande ihres Vaters und ohne ein Einkommen, das ihr erlaubte zu leben, wie sie’s von Hause gewöhnt war. –

Nun brachte ihre Herrschaft den Sylvesterabend auswärts zu, und auch die Magd hatte Erlaubniß erhalten, ihr Vergnügen zu suchen. Der Kutscher war im Stall bei den Pferdem und der Diener leistete ihm Gesellschaft, bis um ein Uhr der Wagen hinauszubesorgen sein würde. Marie war allein in den Wohnräumen. Sie sollte sich wach halten, um gleich bei der Rückkehr der Herrschaft öffnen und die gnädige Frau zu Bett bringen zu können.

Sie hatte die Thüren nach dem Flur von innen verschlossen oder verriegelt – nichts Zufälliges sollte sie erschrecken. Es waren das hohe, schmale, zweiflügelige, weißlackirte und mit geschweiften Goldleisten verzierte Thüren, die muschelartige Aufsätze trugen. Das wenige Licht, das von den Straßenlaternen durch die Spalten der schweren Damastvorhänge an den Fenstern fiel, spiegelte sich fast nur auf ihnen und allenfalls noch auf den Stuckverzierungen der Decken, auf den Glasprismen der Kronleuchter, die von denselben tief herabhingen, und auf den aus der dunklen Tapete vortretenden Bronze-Armleuchtern. Marie saß im letzten Zimmer bei einer kleinen Lampe, deren gelblicher Lichtschein nur die nächste Umgebung des Tischchens erhellte, das sie an den nur noch lauwarmen Ofen gerückt hatte. Es war unheimlich still um sie her; nur der nasse Schnee klatschte an die Fensterscheiben.

Sie hatte sich beschäftigt. Auf dem Tisch lag ein Gesangbuch mit schwarzem Deckel und goldenem Kreuz. Es war längst wieder geschlossen und für’s neue Jahr zurückgelegt, das mit frommen Gedanken eröffnet werden sollte. Ein aufgeschlagener Roman daneben mochte sie darnach eine Weile unterhalten haben. Jetzt aber legte sie sich Karten. Immer wieder fragte sie beim Schicksal an, was es ihr für’s neue Jahr bestimmt hätte, aber nie schien sich nach Wunsch zusammenfinden zu wollen, worauf sie wartete! Die garstigen Karten, wie langweilig das wurde!

Sie stand zur Abwechselung auf, trat an’s Fenster, schob die Vorhänge ein wenig zurück und schaute hinaus. Ganze Etagen der gegenüber liegenden Häuser waren erleuchtet. Da sind sie versammelt, dachte sie, denen das alte Jahr nichts als Freuden gebracht hat und die nun bei gefüllten Gläsern auch in’s neue hinüberjubeln. Bei uns ging’s auch einmal so lustig her. Das ist vorbei. Alle meine Hoffnungen sind begraben. Ein Jahr wird nun hinschleichen wie das andere in einförmigem Dienst, und es wird von dem kärglichen Lohn wieder nichts erübrigt sein. Was nützt auch der schmale Spargroschen? Ein armes Mädchen bringt’s zu nichts, wenn es sich ehrlich hält. Und das bischen Hübschigkeit … Reell meint’s doch keiner. Die reichen Leute –! denen fällt alles in den Schooß. Und verdient haben sie’s doch wahrlich nicht. Aber es ist so in der Welt, daß man gar nicht darnach fragt. Wem’s bestimmt ist, der hat’s. Ah - wenn ich nur ein einziges Mal …

Marie seufzte recht schwer, ging an das Tischchen zurück, nahm die Karten auf, warf sie aber gleich wieder fort. Sie lügen doch nur, murmelte sie, das Glück läßt sich nicht zwingen. Könnte man nur schlafen! Womit die Zeit herumbringen? – Sie ergriff die Lampe und trat ins anliegende Schlafzimmer der Herrschaft, nochmals nachzusehen, ob alles in Ordnung. Da standen die beiden Betten unter dem blauseidenen Baldachin, an der Wand hinten schwereichene Garderobenschränke mit geschnitzten [853] Thüren, daneben aber der hohe venetianische Ankleidespiegel der gnädigen Frau mit großen glänzenden Lampen zu den Seiten und einem weichen Pelzteppich davor. Sie blickte im Vorbeigehen in den Spiegel, und auf dem Rückwege wieder. Die gnädige Frau hat ungefähr meine Statur, dachte sie, aber sie ist lange nicht so hübsch, und ist’s nie gewesen. Ja – wenn sie nicht so schöne Kleider anzuziehen hätte, und den blitzenden Schmuck …

Sie fand nichts zu thun und setzte sich wieder in ihren Lehnstuhl am Ofen. Sie zog den Roman heran, las ein paar Seiten, durchblätterte die Schlußcapitel. Die Augenlider waren ihr so schwer, der Mund verzog sich in immer kürzeren Pausen zum Gähnen. Sie stützte den Kopf in die Hand, nickte ein, raffte sich gewaltsam wieder auf und brachte sich in eine andere Lage. Aber in der nächsten Minute schon – –

Nein! so geht’s nicht weiter. Die Stunden sind nicht herumzubringen. Sylvester! Da will man sich amüsiren. Womit amüsirt man sich, wenn man so mutterseelenallein ist? Ah! man ist nicht allein, wenn man in den Spiegel sieht. Die Toilette der gnädigen Frau. Es ist ein so unschuldiges Vergnügen, sich ein klein wenig mit seinem lieben Ich zu beschäftigen. Kann man in ungefährlicherer Gesellschaft sein?

Sylvesterspuk.
Originalzeichnung von Alexander Zick.

Der Gedanke erfaßte sie so blitzartig, so zwingend – und sie konnte nicht widerstehen. Sie eilte leichten Fußes in’s Schlafzimmer, zündete die Lampen zu beiden Seiten des Spiegels an, trat vor, trat zurück, beugte das blonde Köpschen nach rechts und nach links, hob und senkte das runde Kinn, lachte und zeigte die weißen Perlzähne, blickte schwermüthig und nickte zu ihrem Bilde hinüber. Ein ganz niedliches Gesicht, eine zierliche Figur – ja wohl! wir beide dürfen es einander eingestehen. Wer sonst sieht darnach? Wenn man ein armes Mädchen ist … Ja, wäre ich die gnädige Frau und könnte mich frisiren lassen, wie sie, und mit Blumen putzen und in Seide kleiden und mit Schmuck behängen –! Da solltest du Augen machen – du da!

Und kaum war’s gedacht, so nestelten die spitzen Fingerchen auch schon um Zopf und an dem Scheitel. Wie sie nur so schnell Kamm und Bürste in die Hand bekommen hatte? Wie gefällig sich die Löckchen über der Stirn kräuselten, wie gut die Flechten gelangen, wie stolz die Frisur sich aufbaute! Eine rothe und eine weiße Rose noch! Da stand ja der Carton, in dem die gnädige Frau ihre Blumen aufbewahrte, man braucht den Deckel nur abzuheben. Da! Dieses Sträußchen paßt trefflich – nein, dieses noch besser – und dieses gar … das kleidet entzückend.

Aber das garstige dunkle Wollenkleid dazu, und das einfache glatte Krägelchen –! Dazu gehört eine seidene Robe – hellblau oder weiß, mit luftigen Spitzen garnirt – und die Schultern …

Ob die gnädige Frau den Schrank wirklich verschlossen hat? Sie läßt manchmal den Schlüssel stecken. Wollen einmal sehen. Was thut’s denn? Nur des Spaßes wegen – und weil heut’ Sylvester ist! Sie erfährt ja doch nichts davon. –

Ach –! welche Herrlichkeit! Man merkt’s gar nicht so, wenn die gnädige Frau selbst sich damit geputzt hat. An ihr ist man’s gewohnt. Wenn ich aber … Welche Robe wähle ich nur? Die eine übertrifft immer die andere. Doch kleiden sie sicher nicht gleich gut. Pah! versuchen wir sie nach der Reihe! Das amüsirt am besten – und wir haben ja Zeit.

Dies Feuerroth ist doch zu auffallend … dieser weiße Atlas – wunderschön! aber man muß sich dazu schminken … Das hellblaue Kleid – ! Es sieht so einfach aus, und doch ist der Stoff der kostbarste. Und die Einsätze – und die Spitzen! Ja, das – das! – du gefällst mir, Mariechen – du siehst sehr nobel aus – wirklich sehr nobel …

Und sie verbeugte sich vor dem Spiegel, ließ sich tief nieder und erhob sich in einer Bogenlinie, blickte schelmisch über die weiße Schulter, drapirte sich mit einem luftigen Shawl, spielte mit dem Fächer von geschnitztem Elfenbein und gemalter chinesischer Seide. Die Toilette ist vollständig – es fehlt nur der Brillantschmuck. [854] Aber der fehlt wirklich! In dieser kleinen Truhe pflegt die gnädige Frau ihn aufzubewahren. Alles ist verschlossen – natürlich. Und den Schlüssel hat sie mitgenommen. Wie schade! Der Schmuck gehört nun einmal dazu. Man sieht so unfertig aus – und gar nicht vornehm. Nur eine Kette, ein Armband ...

Ob denn voll meinen Schlüsseln kein einziger paßt? Vielleicht doch! Es käme auf den Versuch an. Der – oder der? Zu groß – zu klein. Der aber -? Was schadet’s denn? Ich will ja nichts nehmen! Wenn sich das Schloß ohne jede Gewalt ... Ah! wie leicht der Schlüssel sich dreht! Und der Deckel – da ist er schon auf. Wie das glitzert und funkelt – welche Pracht!

Und mit hastenden Fingern nahm sie die Armbänder und legte sie um das schmale Handgelenk. Eine Agraffe steckte sie links über der Brust in den schimmernden Atlaß. Die Arme zierte sie mit Spangen, in die rosigen Ohrläppchen zog sie kleine Gehänge von blitzenden Diamanten, an die Fingerchen steckte sie Ringe – an jedes zwei, drei – immer mehr. Es durfte nichts zurückbleiben.

Wie schön sie war! Etwas Schöneres hatte der Spiegel noch gar nicht gesehen. War das die arme Marie? Sie konnte sich gar nicht satt schauen. Aber unangenehm wäre es ihr gar nicht gewesen, wenn auch noch ein Gewisser sie hätte in all dieser Herrlichkeit bewundern können – nur ganz zufällig natürlich, etwa durchs Schlüsselloch. Wo mochte der jetzt sein? Gewiß vergnügte er sich irgendwo und dachte gar nicht an sie.

Die Uhr der Aegidienkirche schlug feierlich langsam zwölf.

Vor einer Stunde kommen sie nicht zurück. Wir haben nicht Eile. Man hört ja den Wagen, wenn er sie abholen fährt. Dann ist’s allenfalls Zeit zum Auskleiden.

Die tiefen Töne klangen ihr wie der Grundbaß zu der Walzermelodie, die sie leise trällerte, die Pausen immer mit einigen flatternden Tacten ausfüllend.

Sie warf die Schleppe zurück, wiegte den Körper anmuthig hin und her, setzte sich, kokettirte mit dem Fächer, den Blick immer fest auf den Spiegel gerichtet. Plötzlich aber schien sie zu erstarren, alle Farbe wich von ihren Wangen, die Augen hefteten sich voll Entsetzen auf eine Stelle dicht über der linken Schulter ihres Ebenbildes, das nun gleichfalls wie versteinert war – – : das Gesicht eines Mannes hob sich ganz deutlich gegen den dunklen Hintergrund ab.

Marie wollte aufschreien, aber die Kehle brachte keinen Ton vor. Konnte sie sich getäuscht haben? Darin gewiß nicht, daß ein Mann hinter ihr stand. Die Augen bewegten sich, und der Mund lächelte wie spöttisch. Aber ob es wirklich der war, an den sie eben gedacht hatte –? Zwar flimmerte es ihr vor dem Gesicht, als ob das Lampenlicht unaufhörlich zuckte, und die Züge wurden immer undeutlicher. Doch die Aehnlichkeit ... Unter der scharf gebogenen Nase ragte ein dunkles Bärtchen zu beiden Seiten spitz auf, und in derselben Richtung strebten die Augenbrauen an der Stirn aufwärts; das Haar hob sich in zwei gesonderten Büscheln von der schmalen Stirn ab, und ein feiner Spitzbart schien das lange Kinn noch zu verlängern. Der Kopf war ihr sonst nicht so interessant vorgekommen, die Augenbrauen nicht so hochgeschwungen, der Bart nicht so spitz. Aber ein Irrthum war doch nicht möglich. Und die grauen Augen blitzten ja auch so sicher auf sie hinein - sie hätte in die Erde sinken mögen.

„Mein Herr,“ begann sie, nachdem sie sich von dem ersten Schreck ein wenig erholt hatte, zitternd und leise, - „in welcher Absicht ...?“

„In der unverdächtigsten, mein sehr verehrtes Fräulein,“ antwortete er lispelnd. „Ich komme nur, Ihnen meine aufrichtige Bewunderung zu erkennen zu geben und meine Dienste anzubieten. Sie sehen in der That reizend aus. Es wäre doch jammerschade, wenn Sie sich nur für sich selbst geschmückt hätten.“

„Aber dieses Kleid - diese Juwelen ...“ bemerkte sie mit ängstlicher Hast und verstummte wieder.

„Ich weiß, was Sie sagen wollen,“ fiel er lächelnd ein. „Ich bin ein Mann ganz ohne Vorurtheil: diese Robe, diese Blumen, diese Steine würden Sie nicht besser kleiden, wenn es der Zufall so gewollt hätte, daß Sie die reiche Frau geworden wären, bei der Sie nun diese unschuldige Anleihe machen. Ihre Schönheit hat das beste Recht darauf –“

„Sie entschuldigen – zu gütig, mein Herr ...“ Marie wagte sich zurückzuwenden. Da stand er nun vor ihr im feinsten Gesellschaftsanzuge, den Hut in der Hand.

„Ich habe durchaus nichts zu entschuldigen,“ versicherte er mit gefälliger Verbeugung. „Alles Natürliche erklärt sich selbst. Es giebt unter den Menschen keinen berechtigten Unterschied, als den die Natur selbst in sie gelegt hat. Den künstlich zugebrachten nach Möglichkeit abzugleichen ist allemal eine sehr dankenswerthe Aufgabe. Und man darf sich ja nur genügend hoch stellen, um die kleinen Bedenken schwinden zu sehen, die leider so oft alle Thatkraft lähmen.“

Diese Worte beruhigten sie sehr. „Wenn ich nur wüßte, mein Herr ...“ sagte sie schon freundlicher.

„Doch nicht, wer ich bin?“ fiel er ein.

„Nein, nur ob ich nicht irre ...“ flüsterte sie verlegen.

Er zuckte leicht die Achseln. „Wenn man sich freilich zum Ball hat frisiren, toupiren und in den modernsten Frack stecken lassen ... Aber wozu auch jedes Ding beim rechten Namen nennen? Ich bin heute für Sie Herr Wunschhold und betreibe zur Zeit auch wirklich kein anderes Geschäft, als denen gefällig zu sein, die mich brauchen.“

„Das ist sehr liebenswürdig,“ sagte Marie, doch wieder ein wenig stutzig gemacht. „Nur begreife ich nicht ... Ich glaubte doch die Thüren verschlossen zu haben.“

„O, ein so rein äußerliches Hinderniß -!“ entgegnete er achselzuckend. „Ich würde meinem Namen schlecht Ehre machen, wenn ich mich dadurch abhalten ließe. Und nun, mein Fräulein - zögern wir nicht länger! Es bleiben uns knapp zwei Stunden Zeit.“

Er trat näher, indem er bei jedem Schritte den linken Fuß ein wenig nachschleifen ließ, und bot ihr galant den Arm. Sie legte die Fingerspitzen darauf, ohne sich doch von der Stelle zu rühren, und fragte verwundert, was er im Sinne habe.

Er nahm ihre Hand und ließ sie nicht mehr los. Sie hatte die Empfindung, als müßte jeder Versuch, sie ihm zu entziehen, ganz fruchtlos sein.

„Mein Wagen hält vor der Thür,“ entgegnete er, „in wenigen Minuten sind wir auf dem Sylvesterball, zu dem Sie sich ja eben so herrlich geschmückt haben.“

„Nein, nein!“ versicherte sie lebhaft, aber nicht erzürnt. Das Herz hüpfte ihr in der Brust, und das Blut schoß ihr in die Wangen.

„Sie dürfen ganz aufrichtig sein,“ sagte er lächelnd. „Wenn eine schöne junge Dame sich zum Ball ankleidet ... und Sie trällerten vorhin schon einen Walzer –“

„Das haben Sie gehört, mein Herr ...“

„Ich bitte, folgen Sie mir ohne Bedenken!“ – Er zog sie sanft fort, und sie konnte nicht widerstehen. Es ging wie ein magnetischer Strom von ihm aus. Sie schloß die Augen, als wandele sie eine Ohnmacht an. Und im nächsten Augenblicke stand sie auch schon auf der Straße. Ihr Begleiter öffnete den Schlag eines Wagens und hob sie hinein. Sie konnte nur gerade noch bemerken, daß zwei Rappen vorgespannt waren und der Dampf aus ihren Nüstern eine Garbe von Feuerfunken schien. Es war ihr nun schon nichts mehr verwunderlich.

Das war eine Fahrt! Wie durch die Luft ging’s. Die Räder schienen das Pflaster garnicht zu berühren, die Hufe der Rosse nicht aufzuschlagen. Die Gaslaternen huschten nur so vorüber. Plötzlich schreckte Marie auf. „Ich habe die Handschuhe vergessen!“ rief sie.

„O, das thut nichts,“ beruhigte Herr Wunschhold. „Warum eine hübsche kleine Hand durch ein so garstiges Ding verunstalten? Und alle die köstlichen Ringe verstecken? - Auf unserm Ball hat übrigens Jeder irgend eine Kleinigkeit vergessen - das fällt nicht auf. Man hat’s so eilig, sich sein Vergnügen zu stehlen ... Aber, da sind wir zur Stelle!“

Aus einem breiten Portal drang eine Fülle von Lichtglanz auf die Straße. Diener in glänzender Livree sprangen zu, rissen den Kutschenschlag auf. Den ersten Absatz der Treppe hielt eine Doppelreihe von Herren in Frack und weißer Cravatte besetzt. Und wie das Paar vorüberschritt - der Cavalier immer ein wenig hinkend - verbeugten sie sich wie die Halme eines Kornfeldes, über die der Wind streicht. Und hinauf ging’s, immer hinauf, Treppe nach Treppe über farbenprächtige Teppiche und an strahlenden Kandelabern vorbei. Die Wände waren Spiegelglas, und wohin Marie sah, sah sie sich. Endlich öffnete sich ein riesiger Saal – Musik scholl ihnen daraus entgegen – Tanzpaare wirbelten [855] vorüber. Tausend Gasflammen brannten, aber sie erschienen wie Kohlen, denn elektrische Sonnen überstrahlten sie mit ihrem silberweißen Mondscheinlicht. Darunter war Alles Bewegung – ein großer Kreisel, in dem viele kleine Kreisel sich unaufhörlich drehten.

Marie taumelte neben ihrem Begleiter in das Gewoge hinein. Man verneigte sich vor ihr – sie fühlte sich von zwei kräftigen Armen gefaßt – im Saal herumgewirbelt. So hatte sie noch nicht getanzt. Der Herr ließ sie los, und sogleich drängte sich ein anderer zu. Man gönnte ihr keine Pause. Ihre Schönheit schien auf die ganze Schaar der Tänzer einen unwiderstehlichen Zauber zu üben. Immer wartete schon ein Dutzend, wenn sie mit einem die Runde gemacht hatte. Und ihr war's, als ob ihr unaufhörlich Jemand in’s Ohr flüsterte: „Schnell, schnell! die Zeit verrinnt – wir haben nur eine Secunde zwischen dem alten und neuen Jahr!“

Da fühlte sie deutlich, daß der Herr, der eben mit ihr walzte, ihr einen Ring vom Finger zog. Und nun wußte sie auch, daß ihr schon mehrere fehlten, die auf dieselbe Weise verschwunden waren. Der folgende Tänzer nahm wieder seinen Tribut und jeder folgende. Marie schämte sich zu sagen, daß die Ringe ihr nicht gehörten, und ließ es willenlos geschehen. Der Ringe wurden immer weniger. Und dann kamen die Armspangen an die Reihe. Der eine sagte: wir müssen die Musik bezahlen, und löste ihr die Agraffe von der Schulter. Nun wurde ihr sehr beklommen zu Muthe. Wie sollte das enden? Aber man ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken, songern zog sie immer wieder in den Kreis der Tanzenden, die ihr alle eine grünliche Gesichtsfarbe zu haben schienen. Da löste sich auch schon das Schloß des brillantenbesetzten Gliederarmbandes, es fiel an ihrem Kleide hinab – viele Hände griffen zu, zerrissen den Schmuck, vertheilten die einzelnen Glieder. Und wieder wirbelte der Tanz.

Plötzlich entstand ein Rückstau der Menge. Viele flüchteten nach den Ausgangsthüren, fanden dieselben aber verschlossen. Die Besitzerin des Locals war erschienen, eine corpulente, grell geschminkte, wunderlich frisirte Dame in feuerrothem tiefausgeschnittenen Kleide. Hinter ihr ging ein Diener, der zwei Teller trug und von Zeit zu Zeit die darin befindlichen Goldstücke schüttelte. Es war nicht zweifelhaft, daß jeder Festtheilnehmer dorthin seinen klingenden Dank zu entrichten habe. Marie besaß nichts; Herr Wunschhold, nach dem sie sich ängstlich umschaute, war verschwunden. Die feuerrothe Dame maß sie mit einem vernichtenden Blick und deutete mit der Hand auf ein Nebenzimmer. Sie mußte dem Winke folgen; die Thüre wurde sofort hinter ihr verriegelt. So war sie nun allein mit einem alten Weibe, das sich sofort daran machte, ihr die Seidenrobe auszuziehen, ohne auf ihr Weinen und Flehen zu achten. Sie warf ihr nur ein zerrissenes Wollentuch um die nackten Schultern und stieß sie dann durch eine kleine Seitenthür hinaus. „Frohes Neujahr, mein Töchterchen!“ gab sie ihr höhnisch mit auf den Weg.

Marie war es, als ob sie tief, tief fiel. Und da lag sie nun auf der Straße im naßkalten Schnee, und über sie hin jagten die vom schneidenden Winde getriebenen Flocken. Sie bebte vor Frost. Das Tuch zog sie am Halse fest zusammen, aber es wärmte sie nicht. Sie raffte sich auf und lief in großer Eile die Straße hinab, immer dicht an den Häusern hin. Ihr war so traurig zu Muthe, und sie schluchzte immer in sich hinein, indem sie zugleich vor Kälte und Angst zitterte. Was sollte sie nun anfangen, wenn sie nach Hause zurückkehrte? Wie durfte sie auf Verzeihung hoffen? Und wenn sie ausblieb, wohin sich wenden? Gewiß würde die Polizei bald hinter ihr her sein und sie als eine Diebin verhaften. Wer würde ihr glauben, daß sie alle die kostbaren Sachen der gnädigen Frau gar nicht habe entwenden wollen, und daß es ihr so schlecht gegangen sei? Sie konnte ja nicht einmal sagen, in welches Haus sie geführt war. Ihr schauerte, wenn sie sich das Gefängniß vorstellte – in dem Roman, den sie vorhin gelesen, war’s so grausig beschrieben. Eine Diebin! Nein, das überlebte sie nicht!

Sie schlug ein schmales Seitengäßchen ein, das nach dem Flusse hinabführte. Er war noch nicht fest gefroren, aber das Wasser lag schwerbeweglich wie geschmolzenes Blei, und im Scheine der Laterne, die drüben auf der Kaimauer brannte, funkelten die Eiskrystalle. Auf dieser Seite war das Ufer ziemlich flach; das Gäßchen senkte sich in einem Einschnitt desselben bis zu einem Floß hinab, das mit Ketten daran befestigt und über einen hölzernen Steg zugänglich war. Die arme Marie schwankte über denselben, kniete vorn auf dem Randbalken nieder, wie es die Wäscherinnen zu thun pflegen, beugte sich über und schaute in das trübe Naß. Sie wollte beten, aber in der Angst konnte sie nicht einmal das Vaterunser fertig bringen. Daß sie hinab mußte, um sich vor der Schande zu retten, war ihr ganz gewiß; aber ihr junges Leben that ihr doch so leid. Sie wünschte, es möchte ihr Jemand einen Stoß von hinten geben, daß es halb wider ihren Willen geschehen müsse. Und das Wasser so eisig kalt!

Da vernahm sie Lärm ganz in der Nähe. Mehrere Leute polterten mit schweren Schritten heran. „Wo ist sie geblieben?“ wurde gefragt. – „Dort, dort!“ – man suchte sie offenbar. Die Stimmen wurden lauter. Zwei oder drei von den Verfolgern sprangen schon hinter ihr auf’s Floß und trappten dabei kräftig auf. Es war ihr, als ob sie die gnädige Frau sprechen und endlich auch ihren Namen rufen hörte. Sie durfte nicht länger zögern –: ein Ruck des Oberkörpers – die Augen zugedrückt – die Hände gefaltet – und ...

Neues, heftiges Poltern an der Thür. – „Marie – Marie! Aber hörst Du denn nicht? Kann Jemand so fest schlafen?“

„Es wird ihr doch nichts zugestoßen sein? Man muß den Schlosser holen lassen.“

„Marie – Marie –!“

„Gnädige Frau ...“

„Ah! endlich. So öffne doch!“

„Ich hab’s wirklich – nicht thun wollen – gnädige Frau ...“

„Aber so schließe doch auf, Kind! Wir wollen in’s Zimmer.“

„In’s Zimmer? ... O, mein Gott –! In’s Zimmer – ja! die Lampe ... Gleich, gnädige Frau, gleich!

Der Schlüssel wurde mit Hast umgedreht. – „Sie sind’s wirklich, gnädige Frau ... und ich ... und alles war nur ...“

Sie rieb sich die Stirn, in die sich die Kante des Buches tief eingedrückt hatte, und die schlaftrunkenen Augen. „Ach, verzeihen Sie ...“

„Aber so tief zu schlafen!“

„Und so zu träumen“ – sagte Marie beklommen. „Wenn Sie wüßten –! Diese Sylvesternacht vergesse ich nicht mein Leben lang.“

„Nun geh’ zu Bett, es ist wirklich recht spät geworden. Und ein frohes neues Jahr, Marie!“

Ein frohes neues Jahr ...

Was wird’s der armen Marie bringen? – Das kann ich errathen: es ist ein Brief unterwegs, den der Briefträger morgen früh abgeben wird, und die Aufschrift scheint von einer männlichen Hand. Wo das Couvert verklebt ist, zeigt sich ein ganz kleines Bildchen. Im Zwielicht hielt ich’s erst für eine platzende Bombe, aber es stellt ein flammendes Herz dar. Man wird zugeben, daß das bei einem Neujahrsbrief nicht ohne Bedeutung ist. Was aber in demselben geschrieben steht – das ist Briefgeheimniß.