Sylvesternacht (Rudolf Lavant)
[XX]
Sylvesternacht
In übermüth’ger Zecher Kreise
Des Jahres Wechsel zu begehn,
Es war noch niemals meine Weise –
Es soll auch heute nicht geschehn!
Ich sitze einsam und allein
Und blicke sinnend und gelassen
In׳s Römerglas voll Ungarwein.
Ich schaue Bilder und Gestalten
Schwarz das Gewand und schwer die Falten,
So schreiten diese still vorbei,
Und jene huschen mit Frohlocken
Dahin und grüßen mit der Hand;
Und um die Stirn ein rosig Band.
Ich habe schwer und viel gelitten,
Es zuckte oft der bleiche Mund;
Ich habe heiß und wild gestritten
Ich habe Herrlichstes genossen
In dieser kurzen Spanne Zeit,
Und meine Thränen sind geflossen
Im Uebermaß der Seligkeit.
Ihr weckt mir weder Furcht noch Reu.
Von Kampflust und von Liebe trunken —
Mir selber blieb ich immer treu.
Und wie das Schicksal auch gewaltet
In Lust und Weh hat sich entfaltet
Zur Blüte meines Wesens Kern.
So geh ich denn mit stillem Muthe
Entgegen dir, du neues Jahr,
Zu Kussesschauern und Gefahr.
Es schmücke sich der Lenz mit Rosen,
Es flamme fahler Wetterschein,
Es fasse mich der Stürme Tosen —
Bewußt und klar in Haß und Liebe,
Gesund und frisch in Herz und Hirn,
Den Stahl entblößt zum scharfen Hiebe,
So biet ich Allem kühn die Stirn.
Du Jahr, das ich herangewacht,
Dir sei auf Siegen oder Fallen
Mein voller Römer dargebracht.
R. Lavant.
Anmerkungen (Wikisource)
BearbeitenErstmals abgedruckt in:
- Illustrirte Zeitung für Gabelsberger’sche Stenographen, 1880, Nr. 7, Seite 77, hier mit dem Titel „In der Sylvesternacht“.