Stunden der Andacht/Gebet im höheren Alter

« Gebet auf einem Kurplatze Stunden der Andacht Gebet auf der Reise »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
[119]
Gebet im höhern Alter.

„Verwirf mich nicht zur Zeit des Alters,
Wenn die Kräfte mich verlassen, verlaß
du mich nicht.”
 (Ps. 71, 9.)

„Unser Leben währt siebenzig Jahre,
Und wenn’s hoch kommt, achtzig,
Und ihr Stolz ist – Mühe und Kummer.”
 (Ps. 90, 10.)

Gott, mein Gott, was ist das Leben! Ein Traum, ein Schatten, der vorüberzieht, eine Wolke, die zerrinnt, ein Schall, der verfliegt! – Eine lange Reihe von Jahren hat mich deine Gnade leben lassen; aber jetzt, wo ich darauf zurückblicke, wie flüchtig und kurz erscheinen sie mir. Und wie ganz anders erscheint uns überhaupt das Leben bei dem Rückblicke in die Vergangenheit, als es in der Gegenwart sich uns dargestellt. Wie [120] ganz anders beurtheilen wir jetzt die Gefühle, die uns beseelt, die Wünsche, die uns durchglühet, die Sorgen, die uns geängstigt, die Bestrebungen, die uns erfüllt, die Freuden, die uns entzückt, das Glück, nach dem wir gestrebt und gerungen haben; wie nichtig, wie eitel, wie bedeutungslos erscheint uns alles dies jetzt, wo es ein Vergangenes und Entschwundenes ist, wo der Schnee des Alters unsre Gluten abgekühlt, wo die Erkenntnis einer langen Erfahrung unser Urtheil gereift hat, – und das ganze Leben scheint uns ein Traum, ein Schatten, der vorüberzieht, eine Wolke, die zerrinnt, ein Schall, der verfliegt!

Aber wie einerseits der Blick in die Vergangenheit uns traurig stimmt und verdüstert, indem sie uns die Flüchtigkeit und Nichtigkeit des Daseins zeigt, so erhebt und erfreuet uns wiederum anderseits dieser Rückblick. Denn durch den trüben Wolkenschleier der Vergangenheit sehen wir das Sternenlicht deiner Gotteshuld und Liebe um so glänzender hervorleuchten, wie sie erhaben über Menschenverstand und Einsicht auf Erden walten, und die Ereignisse lenken und leiten, nicht nach des Erdensohns kurzsichtigen Wünschen, sondern nach deiner ewigen Weisheit. Jetzt sehen wir erst, wie du oftmals unsre Hoffnungen hast unerfüllt, unsre Gebete hast unerhört gelassen, nur zu unserm Heile und Segen; wie du oftmals das, was wir im heißen Sehnen als unser höchstes Gut uns herbeigewünscht, uns hast versagt, und wiederum das, was wir als unser größtes Uebel gern hätten von uns fern gehalten, über uns hast herbei kommen lassen, und dadurch gerade unser Glück und Wohl begründet hast. Jetzt erst erkennen wir es! Wo wir zu fallen glaubten, sind wir gestiegen, und von dem wir glaubten, es werde uns empor und in die Höhe bringen, das hätte uns dem Abgrunde zugeführt. Kein Tag unsres Lebens war ledig deines Schutzes, keine Stunde leer von deiner Huld. Mit tausend Freuden hast du uns das Herz erquickt, in allen Lagen warst du uns nahe, in allen Verhältnissen uns zur Seite. Wo wir es am wenigsten erwarteten, kam deine Hilfe uns entgegen, sind deine Gaben uns zugeströmt. Wie sollte nicht ein solcher Rückblick uns mit heiliger Gottesfreude erfüllen, wie sollte uns nicht mit mächtigen seligen Gefühlen das Bewußtsein erheben, einen so gütigen Vater im Himmel zu haben, so geliebt, bedacht, versorgt und getragen zu werden von einer allmächtigen, allliebenden Hand, so geführt und geleitet zu werden von einer unerforschlichen Weisheit und Güte! Darum danke ich dir und preise dich, [121] Herr, für Alles, was du mir auf meinem Lebenswege hast zukommen lassen, für das Heitere, wie für das Trübselige, denn Alles gabst du mir zum Heil! – Mögest du es mir vergeben, wenn ich im Laufe meines Daseins, bewältigt vom Drange der Ereignisse, bethört und befangen von scheinbarem Uebel, an deiner Liebe und Güte gezweifelt, und meinen Muth und mein Vertrauen in mir habe sinken lassen.

Gib, Allvater, daß ich nie mehr das freudige Vertrauen in dich verliere, daß mich nie mein Muth und meine Zuversicht verlasse, wenn auch die Schwäche des Körpers und die Gebrechlichkeit des Alters auf mich hereinstürmen sollten. Stärke mich, daß ich, so lange ich lebe, im Stande sei, alle meine Pflichten und Obliegenheiten genügend zu erfüllen, daß ich in meinen alten Tagen meiner Umgebung nicht zur Last falle; durch einen reizbaren und mürrischen Sinn ihnen nicht zum Anstoß und zum Aergerniß werde, und durch eine langwierige Krankheit nicht ihre Geduld erschöpfe. Gib, daß ich durch menschenfreundliche Thaten meine letzten Lebensschritte bezeichne, und mit heiterm Bewußtsein dem großen Ruf entgegenharre, der mich hinüberfordert zu dir ins ewige Lichtreich des Jenseits. Amen.