Stunden der Andacht/Beim Schofarblasen

« Am Morgen des neuen Jahres Stunden der Andacht Betrachtung am Neujahrs- und Versöhnungstage »
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Beim Schofarblasen.

„Heil dem Volke, daß den Schofarklang
verstehet, es wandelt, Herr in deinem
Lichte, in den Strahlen deines Angesichts.“
 (Ps. 89, 16.)

Wie erbebt mir das Herz bei des Schofars feierlichem Schalle, seine Klänge wiederhallen an den tiefsten Saiten meines Innern, [44] seine ernsten Töne rufen mir zu: Erdenkind, ermanne dich, ermanne dich! Ein Jahr ist nun wieder hingegangen, und du, du stehest noch immer da, befleckt von den Sünden der Vergangenheit, beschwert von deinen alten Irrthümern und Fehlern; reinige dich, wasche dich in dem klaren Wasser der Unschuld, thue jene ab von dir durch Gebet voll Inbrunst vor Gott, durch Thränen und durch Reue, schüttle ab von dir den alten Menschen, verderbt durch sündige Gelüste und Triebe, betritt die Schwelle des neuen Jahres als ein neues Wesen, als ein neuer Mensch, geschaffen im Bilde Gottes, als ein Kind an Unschuld und Lauterkeit des Herzens. In das verjüngte Jahr tritt du selber verjüngt ein, verjüngt in der Kraft zu allem Guten und Edlen; verjüngt in dem festen Vorsatz und Entschluß, Gott zu dienen und deinem Nächsten wohlzuthun; verjüngt in den heiligenden Gefühlen zu ringen nach Frieden, Wahrheit und Gerechtigkeit. – Es spricht der Herr: „Werft ab von euch alle Sünden, wodurch ihr euch vergangen habt, schaffet euch ein neues Herz, einen neuen Sinn! Warum wollt ihr dahinsterben, Haus Israels!“

Am heutigen Tage sitzest du, o Gott, zu Gericht, und des Schofars Schall verkündigt dem Menschen den Tag des Gerichts. Gott der Allerheiligste geht ins Gericht mit dem schwachen Erdensohne, mit dem Staubgebornen, an dessen Schritte sich die Sünde klammert. „Gott, du schauest alle meine Heimlichkeiten, aller meiner Sünden Zahl, und ich muß vor dir vergehen!“

Und wieder tönt des Schofars Klang, und inmitten seiner Töne durchdringt mich der tröstende Gedanke, daß du, o Gott, nicht nur unser Richter, sondern auch unser Vater, nicht nur allgerecht, sondern auch allgnädig und allerbarmend bist. Du hast auch diesen furchtbaren Tag, den Tag des Gedächtnisses, in deiner Vaterhuld für uns geschaffen und festgesetzt, nur uns zum Heil und zum Segen, um unser Gewissen aus seinem sorglosen Schlummer wach zu rufen aus dem Leichtsinn und der Zerstreuung des alltäglichen Lebens und Treibens, uns aufzurütteln zum Bewußtsein unseres bessern Ichs und unserer höhern Bestimmung auf Erden. – Und ein trostreiches Licht fällt mit diesem Gedanken in meine Seele, und betend und hoffend trage ich mein Herz zu dir hinan!

In Thränen gedenke ich meiner Sünden, ich bereite tief und bitter all meine Vergehen, ich gelobe mir, von heut an, mich eines [45] bessern Wandels, eines reinern Lebens zu befleißigen, ich gelobe mich dir, o Gott, heute aufs neue an; mit neuer Liebe und neuem Eifer will ich deine Gebote befolgen, deinen heiligen Willen zu dem meinigen machen, und vor dir wandeln in Demuth und Unterwürfigkeit. Allerbarmer! mögen meine Thränen und meine Reue, meine aufrichtigen und innigen Entschlüsse wirksame Fürsprecher für mich an deinem Throne sein, daß du versöhnt und freundlich auf mich niederblicken und mich befreien mögest von meiner Schuld, daß ich gereinigt und geläutert das neue Jahr beginne, damit es mir und den Meinigen Glück und Segen bringe. Gib, daß des Schofars mahnende Stimme das ganze Jahr in unserm Innern wiederklinge, um uns an dein allsehendes Auge und an den Tag des Gerichts zu erinnern, auf daß wir stets das Gute lieben, das Rechte üben, und jeden Reiz und Trieb zur Sünde überwinden, wie du bezwingest deinen Zorn und dich hüllest in Huld und Gnade.

„Heil dem Volke, das den Schofarklang[1] verstehet, es wallet, Herr in deinem Lichte, in den Strahlen deines Angesichtes.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schafarklang