Stoff für einen modernen Künstler-Roman

Textdaten
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Autor: Otto Ruppius
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Titel: Stoff für einen modernen Künstler-Roman
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 141–143
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[141] Stoff für einen modernen Künstler-Roman. Als vor Kurzem die „kleine Patti“ als Stern ersten Ranges am Berliner Opernhimmel auftauchte und Triumphe über Triumphe feierte, da stand die musikalische Welt nicht weniger verblüfft, als die Astronomen beim Erscheinen des letzten Kometen, der so ganz ohne alle Legitimation der gesammten Himmelspolizei Hohn sprach. Sie kam aus Amerika! Was kann aus Nazareth Gutes kommen? Früher, und das sind noch kaum vier bis fünf Jahre her, war jede ausgesungene europäische Gesangs-Größe gut genug, um für den amerikanischen Markt verwandt zu werden – und jetzt kann ein Kind, das nur in diesem Amerika gebildet worden, der Berliner Intendanz eine Forderung von 40,000 Francs vierteljährlicher Gage stellen?

Ja, und doch ist die Patti noch nicht die größte derjenigen Sängerinnen, welche nicht in Europa ihren Ruhm erwarben, sondern ihn ebenso wie ihre wunderbare Künstlerschaft fix und fertig aus Amerika mit herüber bringen. Die nächste, welche wir wohl erwarten dürfen, ist die Fabbri, die, obgleich sie verschiedene Jahre mehr als die kleine Patti zählt, doch diese vor dem Glanze ihres echten „Gottesgnadenthums“ zu einem Gestirne zweiten Ranges erbleichen ließ.

Eines Tags, es mag jetzt etwas über ein Jahr her sein, durchlief New-York die Sage von etwas Wunderbarem, noch nicht Dagewesenem im Reiche der amerikanischen Gesangeswelt; und nicht von Europa war die neue Erscheinung gekommen, nicht unter dem Schutze eines Impresario und dem Vorspann der Reclame – in Central-Amerika, völlig gegen alle Lehren der musikalischen Naturgeschichte, war sie zuerst aufgetaucht, hatte sich dann in New-York [142] vor der Crême der kunstrichterlichen Welt in einer Privat-Soirée hören lassen, und von hier aus war durch Stimmen, welche jeden Zweifel schon durch sich selbst vernichteten, der Ruf ihrer eigenthümlichen, unübertroffenen Künstlerschaft in’s Publicum gedrungen. Fabbri, Inez Fabbri hieß sie; wer hatte schon von ihr gehört? wer von alle den speculativen Opern- und Concert- Unternehmern, deren Spürauge kein einziges auf- oder niedersteigendes Gestirn am weiten Gesanges-Horizonte entging, kannte sie? Lächerlich! sie hätte eben so wohl von den Sandwichs-Inseln als aus der musikalischen Wüste von Central-Amerika kommen können! Und Inez Fabbri gab ihr erstes Concert, ihr zur Seite stand ein deutscher Pianist ersten Ranges, ein lang bekannter Name, Richard Mulder, welcher mit ihr angekommen war, und alle die hochgespannten Erwartungen waren doch nur wenig gegen das, was die Wirklichkeit bot; jeder Vergleich zwischen ihr und frühern Größen, welche das New-Yorker Publicum schon in Begeisterungsfieber versetzt, war ein vergebliches Beginnen; nicht ihre Kehle allein sang, jede ihrer Mienen, ihre Stellung, jede ihrer leisen Bewegungen schienen sich singend an diese wunderbaren Töne anzuschließen und sich zu einem Ausdruck zu vereinen, der siegreich Alles in seinem Bereiche zum wilden Enthusiasmus fortriß und jede kalte Analyse ihrer Leistungen zu einem mißrathenen Versuche machte. Sie war eine Eigenthümlichkeit, die aller bis jetzt geltender Schablonen spottete. Die musikalische Welt lag zu ihren Füßen, und die Kritik stimmte einen einstimmigen Preis-Hymnus an.

Der unverdorbene deutsche Geschmack, dem meist Ausdruck und Seele im Gesange mehr gelten als halsbrechende Coloraturen, vermag selten sich recht gründlich für eine trillernde italienische Nachtigall zu begeistern; demohngeachtet zählte die Fabbri zu ihren eifrigsten Verehrern gerade die Deutschen, denn trotz ihrer fehlerlosen italienischen Schule lag eine so echt deutsche Innigkeit und Tiefe in ihrem Vortrage, daß jede italienische Cavatine, jede Bravour-Pièce ein gänzlich verschiedenes Colorit gegen früher Gehörtes erhielt’; und als Schreiber dieses sich gerade über diesen Punkt einmal gegen Mulder, den Begleiter der Fabbri, ausließ, ward ihm eine Geschichte erzählt, die nicht allein über alles Räthselhafte in der Erscheinung der Sängerin Aufschluß gab, sondern auch eine schlagende Illustration zu dem modernen Künstlerleben und zugleich einen Stoff für einen Künstler-Roman liefert, dem nur eine Elise Polko fehlt, um ihm den dankbarsten Leserkreis zu schaffen.

Das ansprechende Bild, das den Verfasser gerade als Deutschen so besonders interessirte, mag hier in kurzen Umrissen folgen.

Richard Mulder, dessen Name wohl jedem Pianisten vertraut ist, lebte anerkannt und glücklich in Paris, als plötzlich einbrechende trübe Familienverhältnisse und der zugleich erfolgende Tod seiner Frau ihn geistig so niederwarfen, daß er in Tiefsinn verfiel. Die Aerzte schickten ihn auf Reisen, und der Kranke ging mit Empfehlungsbriefen versehen nach Lima, wo die Natur, das veränderte Leben und die Gesellschaft mit ihren neuen Eindrücken ihn schnell wieder genesen ließen. Einmal in Süd-Amerika wandte sich der Künstler nach dem reichen Valparaiso in Chile, wo mit Unterstützung der Regierung ein glänzendes Opernhaus errichtet worden war, dem eben nichts fehlte, als Sänger und Musiker. Mulder’s hohe musikalische Befähigung, unterstützt durch die gewichtigsten europäischen Empfehlungen, konnte sich nicht lange der Beachtung entziehen, und als Seitens der Regierung das Engagement einer vollständigen italienischen Operntruppe nebst den nöthigen Musikern beschlossen, sowie ein bedeutendes Capital für diesen Zweck bewilligt ward, nahm Mulder den ihm gemachten Vorschlag an, in Person sämmtliche Engagements in Europa zu besorgen und die spätere Direction der Oper zu übernehmen. Hauptbedingung war eine Primadonna mit jugendlicher Gesangskraft und gleichzeitig tüchtiger Fähigkeit als Darstellerin, angenehmer Erscheinung und frischem Feuer; jede dieser Eigenschaften wurde bei den trägen, zum größten Theile musikalisch ungebildeten Südländern zur unabweisbaren Nothwendigkeit für einen Erfolg.

Mulder reist ab, durchreist Frankreich und Italien, hört überall selbst und hat bald seine Truppe in ganz vorzüglicher Zusammenstellung bei einander – nur die Hauptsache, die Primadonna, fehlt. Was er auch gehört und gesehen, reicht für Chile nicht aus. Die Eine singt vorzüglich, ist aber nicht Schauspielerin, und wo dies Letztere der Fall, fehlt die frische Stimme; der Dritten mangelt jedes Aeußere, und die Vierte läßt trotz aller Kunst völlig kalt. In dieser Verlegenheit, die noch durch das Herannahen des contractlich zur Abfahrt des Schiffes bestimmten Termins erhöht wird, trifft er Roger, den berühmten Tenoristen, welcher soeben von seinen Triumphen aus Deutschland zurückgekehrt ist. „O, ich kann Ihnen vielleicht helfen,“ sagt dieser, als er Mulder’s Noth hört, „ich habe in Hamburg mit einer Fräulein Schmidt in den Hugenotten gesungen, die in mächtiger Stimme, Feuer und Darstellung das Beste ist, was mir nur in jüngster Zeit vorgekommen – aber rein deutsche Schule, Alles Seele und Geschmack, wenig Coloratur!“

„Da ließe sich nachhelfen!“ ruft Mulder in voller Erregung, und nach wenigen weiter ausgetauschten Worten nimmt er auch schon Eisenbahn-Passage nach Berlin. Dort wendet er sich an den ihm bekannten Theater-Agenten Heinrich.

„Kennen Sie eine Sängerin Schmidt in Hamburg?“

„So genau, als nur immer nöthig. Eine ausgezeichnete Gesangskraft und ein ganz vorzügliches Mädchen, der ich ein besseres Schicksal wünschte!“

„Wie so?“

„Sie ernährt mit dem, was sie verdient, ihre Familie, worunter sich ein taubstummer Bruder befindet, und so kann sie sich, trotz ihres heißen Strebens nach höherer Ausbildung, doch das Geld für den Unterricht nicht erschwingen!“

Am Abend ist Mulder in Hamburg. Don Juan wird gegeben – Fräulein Schmidt als Anna – und am Ende der Vorstellung weiß Mulder, daß er Alles gefunden hat, was er nur jemals hätte wünschen können und daß er nicht wieder ohne Fräulein Schmidt aus Hamburg geht. Er läßt sich ihr, kaum daß sie ihre Garderobe verläßt, vorstellen, er begleitet sie nach Hause, stellt ihr seine Propositionen und erklärt ihr, ihre Einwilligung a tout hasard erlangen zu müssen.

Aber das Mädchen schreckt vor dem Wagniß, nach Chile zu gehen, zurück, sie würde völlig allein unter fremden Italienern stehen; sie ist außerdem noch vier Monate unter Contract.

Mulder verspricht diesen zu lösen, drängt und überredet – lange vergebens, bis er ihr endlich die bestimmte Aussicht zeigt, durch ihn selbst Alles zu lernen, was ihrer gesanglichen Ausbildung noch abgehen möge, und kräftiger als bisher für ihre Eltern und Geschwister sorgen zu können. Noch schwankt sie, als er sie zu schon später Stunde verläßt; als er aber am nächsten Morgen zusammen mit dem Director bei ihr eintritt, der ihren Contract für ein Abstandsgeld von 7000 Frcs. aufgehoben, als jener ihr verspricht, der sorgsamste Bruder für sie sein zu wollen und sie erst zu seiner Schwester in Paris zu führen, damit sie Gelegenheit finde, ihn in seiner Familie kennen zu lernen – da siegt die Liebe zu ihrer Kunst, wie die Sorge für ihre Angehörigen, und sie schließt den Contract mit Mulder ab.

Zu rechter Zeit kann sich die in Paris zusammengetretene Truppe einschiffen, und als die Unannehmlichkeiten der ersten Tage auf der See vorüber sind, beginnt auch schon das allgemeine Einstudiren der sich noch fremden Kräfte unter Mulder’s Leitung. Wie ein Donnerschlag aber wirkt auf die Italiener das mächtige Organ und der großartige Vortrag der Deutschen, Neid und Eifersucht weckend. Trotz ihrer Liebenswürdigkeit sieht sich die Letztere bald nur auf die Gesellschaft ihres deutschen Kammermädchens angewiesen, sieht aber keine Gelegenheit von den Uebrigen vorübergelassen, um ihr auf alle Arten weh thun zu können, sieht ihr Verhältniß zu Mulder, der sich nothwendigerweise ihrer hat annehmen müssen, verdächtigt – dieser aber erhält gerade in diesen kleinen Kämpfen, deren Gehässigkeit nur die Breterwelt ganz kennt, einen Blick in einen Schatz von Gemüth und Charakter, wie er ihn bisher in seiner deutschen Landsmännin noch nicht geahnt, und je mehr sich ihre inneren Eigenschaften vor ihm erschließen, desto mehr fühlt er sich zu ihr hingezogen.

Die Oper in Valparaiso wird eröffnet – „Fräulein Schmidt“ thut es aber hier nicht, ein hochtönender italienischer Name muß an ihre Stelle treten. Die Künstlerin zählt „Fabbri’s“ unter ihren Vorfahren mütterlicherseits und sie nimmt diesen Namen an; die deutsche „Agnes“ wird in eine „Inez“ verwandelt, und so setzt sie das Publicum in Feuer und Begeisterung; ihre Weiterstudien beginnen, und sie ermöglicht es, nur sich und ihrer Kunst zu leben.

Da trifft Minder sie eines Tags in Thränen. „Was giebt’s denn, Fräulein?“ fragt er erschrocken.

„Ach, ich bin unglücklich!“ ist die trostlose Antwort, „mein [143] Kammermädchen hat einen deutschen Koch getroffen und heirathet, nun bin ich ganz allein!“

„Ei, so heirathen Sie auch!“ ruft Jener.

Sie sieht erstaunt auf. „Ich? wen denn um Gotteswillen?“

„Nun mich, Richard Mulder, wen denn sonst?“

Inez wurde Frau Mulder, und das war zur Zeit ihres New-Yorker Auftretens etwa zwei Jahre her, zwei Jahre, welche dem Paare unter eifrigem Lehren und Lernen vergingen, bis die zur glänzendsten Entwickelung gediehene Künstlerin plötzlich vor den New-Yorker Kunstrichtern erschien, um von hier aus als Stern erster Größe ihren weitern Siegeslauf zu beginnen.

O. R.