Sterben (Die Gartenlaube 1895)

Textdaten
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Autor: Eva Treu
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Titel: Sterben
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46–47, S. 783–786, 800–803
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Sterben.

Novelle von Eva Treu.

O mein Gott – o mein Gott!“

Die junge Frau richtete sich ein wenig auf und nahm die schmalen, blassen Hände vom Gesicht. Lange hatte sie vornübergebeugt an dem Tisch gesessen, die Ellbogen aufgestützt und das Gesicht von den schlanken Fingern bedeckt, zwischen denen die Thränen hervorquollen. Nun trocknete sie langsam Augen und Wangen. Nein, sie wollte nicht mehr weinen, es nützte ja zu nichts! Freilich – wie oft schon hatte sie sich dies gesagt! Und doch überkam sie das Leid zuweilen mit so unbeschreiblicher, unsäglicher Trostlosigkeit aufs neue, daß sie vergeblich den Thränen Einhalt gebot, die doch ihr geheimes Weh nicht zu lindern vermochten.

Ja, hätte sie den Kopf in solchen Stunden an irgend eines treuen Menschen Schulter lehnen und ihm alles aussprechen können, was sie so elend machte, das hätte ihr helfen mögen. Aber das konnte sie nicht. Sie wußte niemand, der sie so angehört haben würde, wie sie es brauchte. Es giebt nicht viele Menschen, denen ein Unglücklicher sein Herz mit dem sicheren Gefühl ausschütten kann, nicht lästig zu fallen und verstanden zu werden. Und selbst dann! Welche rechte Frau möchte sich so weit demütigen, über ihre unglückliche Ehe zu Dritten, zu unbeteiligten Menschen zu sprechen, die bei aller Freundschaft doch nur dann Verständnis haben könnten, wenn ihnen die tausend kleinen Einzelheiten, deren man sich selbst nur mit Widerstreben und Bitterkeit erinnerte, dargelegt wurden, und die dann doch nur den Mann, den man einst so grenzenlos lieb gehabt hatte, aufs härteste tadeln würden? Nicht das – o nein, nicht das! Wenn sie ihm auch zürnte, Fremde sollten auf ihn keinen Stein werfen. Sie mußte es eben allein tragen, mit sich selber abmachen, wie elend sie war.

Ja, sie war elend! Sie schlug die zitternden Hände noch einmal vor das Gesicht, aber nur für einen Augenblick. Dann strich sie das weiche, wellige Blondhaar, das sie schlicht gescheitelt trug und von dem ein paar Strähnen sich losgelöst hatten, aus der Stirne, schüttelte sich ein wenig, als fröre sie, atmete tief und stand auf, die feine Gestalt wie mit einem Ruck emporrichtend.

Der letzte Lichtblick, den der kurze Novembertag zu vergeben hatte, fiel in das trauliche Wohngemach, das zwar nicht übermäßig elegant, aber doch so behaglich eingerichtet war, wie nur die Hand einer feinsinnigen Frau es versteht. Ein Hauch von vornehmer Eigenart wehte einem entgegen, wenn man diesen Raum betrat, obschon er nichts enthielt, was sich durch besondere Kostbarkeit auszeichnete. Und in das Gemach hinein paßte die Erscheinung der jungen Frau, die jetzt mit rastlosen leisen Füßen in der Dämmerung hin und her schritt. Das Gesicht, obschon blaß und verweint, war von ungewöhnlicher Anmut, die selbst von dem herben Zug nicht beeinträchtigt ward, der um die feingeschwungenen Lippen lag und den die Natur dort sicherlich nicht gewollt hatte.

Jedoch das Leben hatte nicht danach gefragt, was die Natur beabsichtigte, und jetzt hatte jener herbe Zug sicherlich ein Recht, da zu sein.

Die Ehe, die erst vor kaum drei Jahren geschlossen war und von der sie alles Glück erhofft hatte, das vom Leben gewährt werden kann, hatte ihr kaum etwas anderes gebracht als Herzeleid; wenigstens meinte sie dies jetzt, nun sie auf die Zeit zurückblickte. Wie grenzenlos, wie beneidenswert glücklich war sie sich anfangs vorgekommen. Den Mann, dem sie folgte, liebte sie von ganzer Seele, und er – ja, er hätte sie, das vermögenslose Mädchen, doch gewiß nicht erkoren, wenn er sie nicht liebgehabt hätte. Die ersten Monate des neuen Lebens erschienen ihr auch jetzt noch wie ein wunderschöner Traum.

Aber dann kam eine Zeit, wo die zarte junge Frau Rücksicht auf ihre Gesundheit zu nehmen hatte; sie mußte still und zurückgezogen leben, durfte weder Gesellschaften besuchen, noch viele Gäste bei sich sehen, und mußte sich abends früh zur Ruhe begeben. Und es hatte nicht lange gedauert, da war dem lebenslustigen Manne das Bedürfnis nach Zerstreuung gekommen und er hatte es unerträglich gefunden, nach einem Tage voll Arbeit einsam daheim hinter der Lampe zu sitzen.

Zuerst hatte sie selbst ihn gebeten, doch dann und wann auszugehen, freilich mit dem stillen Wunsche, den sie sich aber nicht eingestand, er möge es dennoch nicht thun. Aber er hatte es [784] gethan. Und so ganz nach und nach, gleichsam wie von selbst, war es gekommen, daß er endlich Abend für Abend das Haus verließ, auch dann, wenn sie ihm ganz gut daheim hätte Gesellschaft leisten können. Mancher Tag war vergangen, an dem sie ihn nur bei den Mahlzeiten sah, fast war es, als hätte er sein altes Junggesellenleben vollständig wieder aufgenommen.

Es hatte sie verletzt, tief, bis ins innerste Herz hinein, aber sie hatte geschwiegen. Stets, so lange sie denken konnte, war es ihr eigen gewesen, nicht um etwas bitten zu können, was ihr von rechtswegen zukam und das man ihr doch vorenthielt. Nie hatte sie das gekonnt, am wenigsten, wenn die Liebe es hätte gewähren sollen. Wenn es ihm selbstverständlich war, sie sich selbst zu überlassen, in einer Zeit, wo sie liebevoller Teilnahme und Schonung besonders bedurfte, wenn er dies thun konnte – nun, so mochte er es thun! Sie sprach kein böses Wort, das wäre ihr wie die tiefste Demütigung erschienen, aber wenn er abends nach kurzem Gruß wohlgemut davon gegangen war, nachdem er im Laufe des Tages für sie kaum ein halbes Stündchen Zeit gefunden hatte, dann weinte sie bitterlich und ein herbes Gefühl gegen ihn schlich sich in ihr Herz, dem sie keinen Namen geben mochte.

Sie sprach kein böses Wort, nein, aber das eine konnte sie freilich nicht hindern, daß sie jetzt kühler und zurückhaltender zu ihm sprach als früher. Es war etwas zwischen ihn und sie getreten. Und er war es gewesen, der die Schuld trng, er ganz allein.

Wach lag sie im Bett, bis sie ihn spät heimkommen hörte. Doch wenn er dann leise und vorsichtig eintrat, um sie nicht zu stören, schloß sie die Augen, als schliefe sie. Was brauchte er zu wissen, daß sie sich um ihn gegrämt hatte!

Dann kam ein Tag, wo man der jungen Frau ein Kindchen in die Arme legte, ein zartes, winziges Ding, und ihr sagte, es sei das ihre, wo sie das kleine Wesen in grenzenlosem Entzücken an sich drückte – „mein – mein!“

Sie hatte vorher gehofft, dieser Tag würde vielleicht den Mann ganz zu ihr zurückführen und es würde alles wieder werden, wie es früher gewesen war. Und gewiß, Glück und Vaterstolz leuchteten hell aus seinen Augen, als man ihm das Töchterchen entgegenhielt und er das weiße Bündel vorsichtig und ungeschickt auf den Arm nahm. Gewiß, er küßte die weißen Finger der jungen Frau und streichelte ihre Wange – aber so wie einst wurde es doch nicht wieder.

Nein, nein, sie konnte nicht nachrechnen, wie alles gekommen war. Schritt für Schritt war es gegangen. Es war ja wahr, ihre eigene Gesundheit blieb lange schonungsbedürftig, sie blieb auf Haus und Zimmer angewiesen, das Kind war zudem ihrer Fürsorge unendlich bedürftig, mehr noch als andere Kinder in so zartem Alter, und es war ohne Zweifel nicht immer interessant daheim für den Mann, und doch – doch, so ganz, so vollständig hätte er seine Freuden nicht außer dem Hause suchen dürfen! Bald waren sie wie zwei Parteien, er aus der einen, sie und das Kind auf der anderen Seite. Er lebte für sich und sein Behagen, sie für das Kind. O, damals empfand sie es ja noch kaum. Das Kind füllte Zeit, Gedanken und Herz so völlig aus, und er hatte sie ja schon vorher daran gewöhnt, ohne ihn zu leben.

„Mein – mein!“ Ja, dies kleine, zarte, so ganz von ihr abhängige Wesen, das gehörte ihr, und ihr Eigentum, ihr einziges, sollte es sein und bleiben, wenn er ohne Frau und Kind fertig werden konnte.

Doch es hätte sich wohl alles tragen lassen, wenn es nur so geblieben wäre. Wenn er jetzt oft spät in der Nacht von irgend einem Orte heimkehrte, den sie keineswegs immer erfuhr, nicht selten ohne die einst geübte Behutsamkeit, sie nicht zu stören, so schlief sie nach den mancherlei Mühen des Tages für das Kind oft wirklich schon fest; sie hatte nicht wach gelegen und sich um ihn gegrämt wie einst. Wenn sie dann erwachte und seiner geräuschvollen Art anmerkte, daß er den Abend in einer Weise hingebracht hatte, die ihr Zartgefühl verletzte, so empfand sie nur einen augenblicklichen großen Widerwillen, nicht Bitterkeit. Mochte er seine lustigen Freunde haben, wenn er es durchaus so wollte; sie hatte ja das Kind.

„Mein – mein!“ dachte sie dann und streckte die Hand nach dem Töchterchen aus, das in seinem kleinen Bette neben ihr schlief. Es wurde ja mehr und mehr das ihrige allein, je weiter er sich von ihnen beiden fernhielt. Ja, hätte sie nur das Kind behalten, so hätte sie es wohl überwunden, daß er seinen eigenen Weg ging, der ihr nicht gefiel, und daß die Kluft zwischen ihnen von Tag zu Tag größer wurde. Selbst ohne ihn war sie noch reich.

Aber es sollte nicht sein. Ihr hatte das Schicksal bestimmt, arm zu sein. Einer jener tückischen Kinderkrankheiten, die plötzlich da sind, man weiß nicht woher, fiel das von Anfang an schwächliche kleine Wesen zum Raub.

Ein Tag nur der bangsten Sorge war es gewesen. Der Vater war natürlich nicht da. Er hatte einen arbeitsfreien Tag benutzt, um mit lustigen Freunden einen Ausflug zu machen. Allein hatte sie an dem Krankenbettchen gesessen, zu Gott geschrieen in ihrer Not und Verzweiflung, ihr dies eine, einzige, was sie besäße, zu lassen, allein hatte sie die brechenden, geliebten Augen zugedrückt und die erkaltenden Händchen in den ihren gehalten. Sie war nicht zusammengebrochen; bleich uud starr hatte sie die Wache bei ihrem toten Kinde gehalten bis in die Nacht hinein.

Und dann war er heim gekommen. Sie hatte die Hausthürglocke und dann sehr unsichere Schritte auf dem Flur gehört, nun öffnete sich die Thür und er trat ein mit gerötetem Gesicht und etwas glasigen Augen. Er war betrunken – zum erstenmal, seit sie ihn kannte, geradezu berauscht.

Oft im Laufe des letzten Jahres hatte sie ihn in etwas angeheiterter Stimmung gesehen, und schon das war ihr peinlich und abstoßend gewesen, so aber sah sie ihn zum erstenmal. Und was er nüchtern schon lange nicht mehr gethan hatte, das that er jetzt im Rausche; er kam schwankend auf sie zu, legte den Arm um ihre Taille und küßte sie mit einem Scherzwort.

Da hatte die junge Frau mit einer leidenschaftlichen Bewegung des Ekels ihre Schultern frei gemacht und ihm das todblasse Gesicht zugekehrt. „Hinaus!“ hatte sie rufen wollen, während die Hand gebieterisch nach der Thür wies, aber die starren Lippen hatten das Wort nur tonlos gebildet.

Hatte er es dennoch verstanden, oder hatte ihn ihr Gesicht und ihre Gebärde ernüchtert – der Rausch war plötzlich verflogen. Sich langsam über die Stirn streichend, kam der Mann zum Bewußtsein und sah, was hier geschehen war. Noch deutete die schmale Hand nach der Thür, und er wandte sich und ging hinaus wie ein Schuldiger.

Seit jener Stunde – es war nun über ein Jahr – gingen sie nebeneinander hin, beinahe wie fremde Menschen. Sie hatten das Kind begraben, ohne daß ihre Thränen sich vereint hätten, und sie waren dann langsam zurückgesunken in das Einerlei des Alltagslebens, ohne daß sich die Eiseskälte, die sie umfing, je gelöst hätte. Sie zankten nicht miteinander, nie war ein Scheltwort zwischen ihnen gefallen, aber das, was auf ihnen lag, war, weil es unausgesprochen blieb, schlimmer noch als Zank.

Der jungen Frau war in diesem verödeten Hause, seit das Kind tot war, zu Mut wie in einem Gefängnis. Den Mann hatte sie nie wieder in einem Zustand gesehen, wie in jener unglückseligen Nacht, aber er ging seinen Weg mehr als je für sich allein. Jetzt, vor wenigen Tagen erst, hatte ein Zufall sie auf die Spur von Dingen geleitet, die sie tief demütigten und erbitterten. Die Liebe, die er zu Hause weder suchte noch fand, schien ihm anderswo zu teil zu werden. Einen eigentlichen Beweis freilich hatte sie nicht dafür, aber der Schein sprach deutlich. Sie selbst, sie liebte ihn ja nicht mehr; es war ja nur ihr Stolz, der so tief verletzt wurde, aber der Schmerz war darum nicht minder scharf.

Nein, sie ertrug es nicht länger, dies Leben des Elends, das sie führte. Was war es denn? Ein Schattenleben nicht der Mühe des Atmens wert!

Sterben! o, wer es könnte, wer nicht so unbarmherzig gesund wäre trotz alles Harms! Wer vergehen könnte am gebrochenen Herzen, wie man es mitunter las und hörte und doch, bei aller Sehnsucht danach, nicht erlebte. Ach nein, es war so eingerichtet in dieser grausamen Welt, daß gerade die, welche am elendesten sind, sich am längsten in ihr dahinschleppen müssen, immer den langen, öden, trostlosen Sandweg dahin, bis das Haar weiß und Herz und Geist ganz stumpf und zermartert sind.

Sterben! – und dennoch, warum nicht? Andere vor ihr hatten einen Ausweg gefunden, hatten entschlossen mit eigner Hand ein Ende gemacht, wenn ihnen die Last zu schwer wurde.

Nur – nur – wie konnte man diese Welt eigenwillig verlassen, ohne den Ueberlebenden ein Gegenstand der Verachtung zu sein, oder den großen Jammer, der einen dazu trieb, den Müßigen und Neugierigen preiszugeben? Nicht ins Wasser – nur das [786] nicht! Nicht irgend eine Todesart, der man die Absicht gleich anmerkte! Es mußte auf eine Art geschehen, der niemand ansah, daß man mit eigener Hand ein Ende gemacht hatte.

Man konnte Gift nehmen. Die junge Frau strich sich mit der kalten, schmalen, zitternden Hand über die Stirn – gewiß, man konnte Gift nehmen. Gab es nicht Gifte, die schmerzlos und sanft töten, ohne das Gesicht zu verzerren und zu entstellen, ohne je im Körper nachgewiesen werden zu können? Man starb, und es hieß dann, ein Herzschlag, oder ein langsamer Kräfteverfall habe einen getötet. Sie hatte gehört, daß es dergleichen gebe. Aber ihr waren die Namen solcher Stoffe, um die sie sich nie gekümmert hatte, unbekannt, und hätte sie dieselben gewußt, was hätte es ihr geholfen? Man geht nicht in die Äpotheke, verlangt ein Gift und erhält es.

Und doch, ein Mittel gab es vielleicht, zu erlangen, was sie begehrte.

Ob er sie wohl verstehen würde, der alte, seltsame, einsiedlerische Mann mit den klugen, sanften Augen und dem Zug von schmerzlicher Resignation um den Mund, jener alte Mann, von dem man sich erzählte, daß er ein vor langen, langen Jahren zerschelltes Lebensglück immer noch nicht vergessen und verschmerzen könnte, daß er die Erinnerung daran mit sich geschleppt hätte, fast durch die ganze Welt auf seinen großen Reisen durch fremde, zum Teil noch kaum erforschte Länder, und sie unverändert, unverblichen und unverwischt wieder zurück gebracht hätte in die alte Heimat?

Einsiedlerisch und weltfremd lebte er nun schon seit vielen Jahren; nur ein Zufall hatte sie damals, als sie voll strahlenden Glücks als junge Frau hier einzog, seine Bekanntschaft machen lassen, die sich schnell zu einer Art von Freundschaft entwickelt hatte. Sie war zuweilen auch in seinem Hause, das abseits vom Wege in einem großen Garten lag, gewesen. Mancherlei Wunderliches hatte er ihr da gezeigt, und sie entsann sich jetzt, daß er ein Schränkchen von indischer Arbeit aufgeschlossen und, auf allerlei Fläschchen von seltsamer Form deutend, mit einem halben Lächeln gesagt hatte: „Das ist eine Sammlung seltener, den meisten Europäern ganz unerreichbarer Gifte.“

Sie hatte den Kopf abgewendet und mit der Hand abgewehrt, der kleine Schrank war ihr geradezu unheimlich gewesen. Nichts in der Welt konnte damals ihren Gedanken oder Wünschen ferner stehen als der Tod. Und der alte Mann hatte genickt und mit seinem ernsten Lächeln gesagt, daß dies allerdings Dinge seien, für welche sie, jung, schön und glücklich wie sie sei, keinerlei Interesse haben könnte. Dann hatte er schnell zugeschlossen, den Schlüssel abgezogen und ihr chinesische Elfenbeinschnitzereien gezeigt, welche sie mit vielem Vergnügen betrachtet hatte.

Ob der alte Mann mit dem weißen Haar und den sanften, traurigen Augen sie wohl verstehen würde, wenn sie ihm sagte, daß sie sterben möchte? Ob er sie verstehen würde ohne nähere Erklärung – sie verstehen, ihr helfen und schweigen?

Sie glaubte es.

Es war etwas Verwandtes in ihm und ihr, etwas, das ihn befähigen würde, sie ohne viele Worte zu begreifen, das fühlte sie. Dieser alte Mann würde wissen, daß, wenn eine Frau wie Agnes Berner zu sterben begehrte, sie das Weiterleben wirklich unmöglich finden mußte.

Ja, sie wollte es thun! Tief atmete sie auf. Was vergangen ist, kann man nicht zurück ersehnen; aber Ruhe, Ruhe, die kann man sich verschaffen, einen langen Schlaf und Vergessenheit alles dessen, was einen quält.

Rasch warf sie einen wärmenden Mantel um und drückte einen unscheinbaren Filzhut auf das schöne Haar. Als sie auf den Flur trat, stand die junge Magd mit der brennenden Lampe draußen.

„Die gnädige Frau geht aus?“ sagte das Mädchen verwundert, „es ist sehr häßliches Wetter draußen.“

„Es schadet nichts, Marie, in einer halben Stunde bin ich wieder da.“

Das Mädchen sah ihr kopfschüttelnd nach, als sie nun auf die Straße trat. „Bei dem Wetter!“ sagte sie vor sich hin, „und in den leichten Schuhen! Die gnädige Frau ist doch sonst so ängstlicb vor nassen Füßen.“

Der feine, kalte Novemberregen sprühte Frau Agnes in das Gesicht und setzte sich in tausend winzigen Tröpfchen in ihr Haar. Der Wind zerrte an ihrem Schirm und an dem faltigen Mantel, das feine Schuhwerk, dessen sie sich zu entledigen vergessen hatte, war nach den ersten hundert Schritten durchweicht. Sie achtete nicht darauf, wenigstens war es ihr nicht widerwärtig. Im Gegenteil, es that ihr eher wohl, gegen das Wetter ankämpfen zu müssen. Sie war nun ganz ruhig. Der Entschluß hatte ihre Thränen versiegen lassen und ihre Erregung gedämpft.

Aber als sie nun vor dem Hause stand, welches sie suchte, zögerte sie doch wieder. Wie sollte sie dem alten Manne sagen, was sie wünschte? Bis jetzt hatte sie nicht daran gedacht, in was für eine Form man eine so seltsame und ungewöhnliche Bitte kleiden könnte.

„Der Augenblick muß es geben,“ dachte sie nach kurzem Sinnen und zog an der Glocke.

Nun stand sie auf dem matt erleuchteten Flur, und jetzt öffnete sich die Zimmerthür für sie.

Der alte Herr legte das Buch, in welchem er gelesen hatte, beiseite, stand auf und nahm den lichtdämpfenden Schirm von der Lampe. Der helle Lichtschein fiel auf sein weißes Haar und auf sein kluges, gütevolles Antlitz.

„Frau Agnes!“ sagte er, ihr mit einem liebenswürdigen und erstaunten Lächeln die Hand entgegen streckend. Sie hatte ihm gestattet, sie so zu nennen; er liebte den Namen.

„Frau Agnes – bei dem bösen Wetter!“

„Ach, das Wetter,“ sagte die junge Frau gleichgültig, aber sie nestelte zugleich unwillkürlich an den Schließen des schweren, nassen Mantels.

„Sie sind durchnäßt und Sie friert!“ sprach der alte Mann, nahm ihr den Mantel ab und rollte einen altmodischen Sessel für sie herbei, und dann, als das Licht voll in ihr weißes Gesicht fiel, fügte er langsam hinzu: „Sie sind mehr als das. Sie sind krank.“

„Krank – ach nein!“ Sie schüttelte den Kopf.

„Oder Sie bedürfen meiner Hilfe,“ sagte er fragend und sah ihr immer noch in das weiße Gesicht.

„Ja.“

„Und diese Hilfe kann Ihnen Ihr Mann nicht leisten?“

„Nein – er nicht.“ Ihr Gesicht wurde hart. Und plötzlich kamen sie ihr wieder, die Thränen, die sie schon alle ausgeweint zu haben meinte, sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und senkte den Kopf in die Hände.

Er ließ sie sich ausweinen, ohne sie zu stören, und nach einer Weile hob sie von selbst den Kopf wieder empor.

„Ich bin nicht krank,“ sagte sie ruhig, „ich bin nur sehr, sehr unglücklich.“

„Und Sie glauben, daß ich Ihnen helfen kann?“ sagte der alte Mann, sie aufmerksam und teilnehmend betrachtend.

„Ja!“ Dann wurde es wieder still.

„Können Sie mir sagen, was Sie bedrückt?“

„Nein, nein,“ sagte die junge Frau hastig, „das kann ich nicht. Es ist etwas – ich müßte jemand beschuldigen – nein, ich kann es nicht! Können Sie es nicht auch ohne das verstehen, wie einem das Leben so zur Last werden kann, daß man keinen anderen Wunsch mehr hat als den, es hinzuwerfen?“

Der alte Mann schwieg einen Augenblick. „Kind,“ sprach er dann, seine runzelige Hand auf ihre schlanke, weiße legend, „Kind, Sie sind so jung – und gesund, schön und begabt. Es stirbt sich nicht so leicht, wie Sie meinen.“

„Doch, es stirbt sich ganz leicht,“ sagte sie fest. „Können Sie nicht verstehen, daß einem so zu Mute sein kann?“

Er nickte langsam. In seine sanften Augen kam ein wunderlicher Ausdruck. „O ja, aber es geht vorüber, man lernt warten – und es war doch auch nicht das, mein Kind, wozu ich Ihnen helfen sollte?“

„Ja, das war’s.“ Nun war es heraus.

„Sie? Ich sollte –“ Der alte Mann erhob sich halb, „Sie sind krank, Frau Agnes, ich – ich sollte Ihnen helfen –?“

„Ja.“

Sie sahen sich ins Gesicht, Auge in Auge; es wurde wieder ganz still. [800] Der alte Herr holte tief Atem.

„Ich weiß, daß Sie mir helfen können,“ sagte die junge Frau, das Schweigen unterbrechend, zu dem alten ergrauten Freunde, „und wenn Sie es mir weigern, werden Sie mich doch nicht zu hindern vermögen, zu thun, was ich mir vorgenommen habe. Nur auf eine andere, häßlichere Art wird es dann geschehen müssen, nur mein Elend muß ich dann preisgeben, das ich vor neugierigen Augen wahren möchte, ach, nicht um meinetwillen! Nur daß dann die Welt auf mich oder sonst jemand Steine werfen wird, während ich mich doch still fortschleichen möchte, ohne daß jemand ahnt, wie es zugeht. Dazu nur sollten Sie mir helfen! Es giebt Stoffe – ich weiß, Sie haben seltene und geheim wirkende Gifte, deren Spur sich verflüchtigt. Sie selbst zeigten sie mir einst. Wenige Tropfen vielleicht würden genügen, mir die Qual eines langen Kampfes und noch vieles, vieles andere zu ersparen.“

„Kind,“ sagte der Alte und machte leise seine Hand los, die Frau Agnes umklammert hielt, „wissen Sie, was Sie von mir verlangen?“

„Ja, eine That der Barmherzigkeit.“

„Nein, einen Mord.“

Aber wenn ich Ihnen sage, daß es auf jeden Fall geschehen wird? Heute, morgen oder an einem der nächsten Tage, aber ganz gewiß bald, ob Sie mir nun helfen oder nicht.“

Der alte Mann sah schweigend auf sie hin, auf ihr junges Gesicht und ihr schönes Haar, das sich, feucht vom Regen, ihr an die Schläfen legte. Er schüttelte leise den Kopf.

Haben Sie von dem, was Sie so elend macht, Ihre eigene Schuld abgezogen?“

„Ich trage keine.“ Sie stand auf und reckte ihre schlanke Gestalt ein wenig empor. „Also Sie wollen mir nicht helfen? Ich hatte es anders gedacht. Es bleibt mir also nur der Fluß. Nun, wie Sie wollen! O nein, fürchten Sie nichts, ich werde nicht von hier aus direkt ins Wasser gehen und Sie kompromittieren. So sehr eilt es nicht damit. Ich habe noch verschiedenes zu ordnen, aber wiedersehen werden wir uns wohl kaum. Leben Sie wohl!“

Sie nahm ihren Mantel und wandte sich zur Thür, müde, entmutigt, enttäuscht, aber in ihren Augen flimmerte etwas, was den alten Mann die Hand auf ihren Arm legen ließ.

„Bleiben Sie, Sie sollen nicht in den Fluß gehen. Ich sehe, daß Sie es thun würden. Kann ich Sie nicht zurückhalten, so kann ich es Ihnen doch erleichtern. Ich will Ihnen geben, was Sie wünschen.“

Sie sagte nichts, dankte auch nicht, aber sie kehrte an den Tisch zurück und ließ sich wieder in den Sessel nieder, aus dem sie sich soeben erhoben hatte.

Der alte Mann ging an einen Wandschrank, schloß auf, nahm ein Glas heraus und füllte es mit altem dunklen spanischen Wein. „Sie werden noch einen Augenblick verweilen müssen,“ sagte er ernst und ruhig, trinken Sie das inzwischen; Sie sind naß und erschöpft, es wird Ihnen gut thun.“

Sie nahm das Glas mechanisch. Ja, trinken – etwas trinken – etwas, das heiß und feurig war! – Es war ihr nun auf einmal, als hätte sie danach gelechzt, und sie setzte das Glas an die Lippen und trank es leer. Ach, wie wohlig das durch die Adern rieselte! Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen, während der alte Mann eine Kerze anzündete und in das Nebenzimmer trat.

Frau Agnes war so erschöpft, daß der schwere Wein sie fast einschläferte. Die Lider sanken ihr herab, und sie lag eine ganze Weile, in den Sessel zurückgelehnt, in jenem sonderbaren, dämmerigen Zustand, der nicht Wachen, nicht Schlafen ist und in dem man den Maßstab für Zeit und Raum verliert. Wie lange? Vielleicht fünf Minuten, vielleicht eine halbe Stunde, oder länger, sie hätte es nicht sagen können, als sie endlich wieder empor schreckte, von der Stimme des alten Mannes geweckt.

„Sie haben lange warten müssen.“

„Nein, nein,“ sagte sie; sie war auf einmal wieder ganz wach und streckte die Hand aus, das winzige Gläschen in Empfang zu nehmen, welches in der seinen glänzte.

„Gott allein weiß, ob ich das Rechte thue, und wenn ich nicht überzeugt wäre, daß sonst Schlimmeres geschähe, so würde ich mich um keinen Preis dazu verstehen,“ sagte der alte Mann mit einem Seufzer, die Hand noch zögernd zurückziehend.

„Sie handeln barmherzig.“ Ein feines Rot trat in ihr schönes Gesicht, ein Aufleuchten von Freude in ihre Augen.

Und nun hielt sie es in der Hand, das kleine Glas, winzig, nicht größer als das oberste Glied ihres kleinen Fingers, nur wenige Tropfen einer klaren Flüssigkeit fassend, von wunderlicher Form und mit einer Art Kautschuk verschlossen.

„Und wie – wie wird die Wirkung sein?“

Der alte Mann schwieg eine ganze Weile und sah auf sie, wie sie das Gläschen gegen das Licht hielt und mit einem beinahe freudigen Ausdruck darauf blickte. Als er nicht antwortete, wendete sie die Augen fragend ihm zu.

„Das Fläschchen darf nicht geöffnet werden, ehe man den Inhalt benutzen will. Dieses indische Gift“ – er nannte einen fremd klingenden Namen – „verflüchtigt sich sonst fast augenblicklich, und die wenigen Tropfen, die das Glas enthält, reichen ganz genau aus, um“ – er zögerte und fuhr dann langsam fort zu dem Zwecke, den Sie wünschen. Nicht ein Tropfen darf fehlen. In eine Speise geschüttet, färbt es dieselbe, obgleich es, wie Sie sehen, an sich farblos ist, sofort dunkel violett. Der Geschmack dagegen soll nicht unangenehm sein, sondern etwas fade süßlich. Die Wirkung tritt im Laufe von vierundzwanzig Stunden allmählich ein, ohne Schmerzen zu verursachen. Man wird müde, die Glieder werden schwer, man schläft ein und – erwacht nicht wieder.“ Er hatte eintönig und leise gesprochen. „Nein, nein, Kind, geben Sie es mir zurück!“ rief er plötzlich lebhaft. „Was Sie thun wollen, ist Wahnsinn, und ich bin schlimmer als ein Wahnsinniger, Ihnen dazu zu verhelfen!“

Sie schüttelte den Kopf und barg die Hand mit dem Glase in der Tasche.

„Ich danke Ihnen so sehr,“ sagte sie mit einer plötzlichen herzgewinnenden Wärme in Stimme und Blick, „es ist lange her, seit jemand so gut gegen mich war. Leben Sie wohl! Und fügen Sie Ihrer großen Güte noch das hinzu: schweigen Sie gegen jedermann über dies alles!“

Sie hatte ihm die Hand gedrückt und war rasch aus der Thür gegangen, ehe er ein Wort hatte erwidern können. Der alte Mann stand mitten im Zimmer und sah ihr nach. „Armes Kind – gebe Gott, daß es das Richtige war,“ murmelte er, indem er mit der Hand über die Stirn und dann über den schneeweißen Bart strich.

Er setzte sich an sein Buch zurück, aber es war ihm unmöglich, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, er klappte es zu, legte es beiseite und ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt, ruhelos in dem Gemache auf und ab, bald vor dem Sessel stehen bleibend, auf dem die schöne Frau gesessen hatte, als spräche er zu ihr, bald gedankenverloren in das Licht starrend, und dann wieder mit tiefgesenktem Haupte seine Wanderung fortsetzend.

„Armes Kind – armes Kind! – Es war schließlich das einzige, was ich thun konnte, um ihr darüber weg zu helfen.“

Die junge Frau eilte indessen raschen Schrittes denselben Weg, den sie gekommen war, zurück. Das Wetter hatte sich noch verschlechtert, aber das ließ sie ganz gleichgültig. Beinahe leicht war ihr zu Mut, seit sie das kleine Glas in ihrem Besize wußte. Es war ein köstlicher Gedanke, allem, was ihr das Herz so schwer gemacht hatte, nun entrinnen zu können, sobald sie wollte, morgen, heute, in einer Stunde – jetzt, wenn es ihr so gefiel.

Aber nein, jetzt sollte es noch nicht geschehen. Es gab noch so manches zu ordnen, Bestimmungen zu treffen über ihr kleines Eigentum – sie wußte, die würde „er“ respektieren, so fremd sie sich auch geworden waren – Briefe zu verbrennen, die sie in niemandes Hände fallen lassen mochte, nicht einmal in die seinen, obgleich er selbst sie geschrieben hatte – einst in der Brautzeit.

Ja, selbst Kleinigkeiten fielen ihr nun ein, die sie nicht so zurücklassen mochte wie sie waren, wenn sie für immer ging. Sie wußte, daß fremde Augen in Kasten und Schränke blicken würden, und hier und da war in der lezten Zeit, wo der Gedanke an ihr Elend sie so ganz hinnahm, etwas vernachlässigt worden. Es sollte alles sein, wie es sich gehörte, wenn sie ging; kein Tadel, selbst um geringfügiger Dinge willen, sollte sie treffen.

[802] Noch vor einer Stunde hätte sie es nicht für möglich gehalten, daß ihre Gedanken sich um so nebensächliche Dinge drehen könnten, aber jetzt, wo sie sozusagen das Reisegeld für die große Reise in der Tasche trug, kam es ja auf einen Tag Verzug nicht an. Sie konnte ja jetzt sterben, sobald sie wollte. Ihre Hand glitt während des Gehens in die Tasche. Ja, es war da, das kleine Glas, und fast wie ein Lächeln ging es über ihr Gesicht.

Licht und Wärme strömten ihr entgegen, als sie in ihr Wohngemach eintrat. Die Magd hatte aus eigenem Antriebe die Vorhänge herabgelassen, das Feuer geschürt und die Lampe auf den Tisch gestellt. In dem anstoßenden kleinen Eßzimmer, zu dem die Vorhänge zuruckgeschlagen waren, stand der Tisch zierlich für das Abendbrot vorbereitet. Dort brannte noch keine Lampe, aber das Feuer warf seinen unbestimmten, zitternden Schein über den dunkelroten Teppich uud das blanke Tischgerät. Die Magd brachte das bereit gehaltene wollene und gewärmte Schuhwerk und nahm ihr den Hut und den nassen Mantel ab.

„Danke, Marie, daß Sie daran dachten,“ sagte die junge Frau gütig, „Sie sind ein kleines gutes Mädchen.“ Sie war gewohnt, freundlich mit ihren Dienstboten zu verkehren, aber das Mädchen, ein anhängliches junges Ding, das seine schöne Herrin vergötterte, sah dennoch überrascht zu ihr empor. Es hatte etwas gar so ungewohnt Weiches in der Stimme gelegen. In Wahrheit war Frau Agnes, während sich die Kleine so geschäftig um sie mühte, auf einmal eingefallen, es sei vielleicht das letzte Mal, daß ihr jemand einen Liebesdienst erweise, uud daß die Magd sicher heiße und aufrichtige Thränen um sie weinen würde – vielleicht die einzigen, die um sie flossen.

„Die gnädige Frau ist doch wohl?“ fragte das Mädchen und sah ihr in das blasse Gesicht. „Es ist so abscheulich draußen, und gnädige Frau ist nicht daran gewöhnt.“

„Ganz wohl, Marie; so wohl wie seit lange nicht.“

„Ich will ihr in unauffälliger Weise irgend etwas von meinen Sachen schenken, ehe ich gehe,“ dachte sie, als das Mädchen fort war. Nun, da es in ihrem Innern so viel ruhiger geworden war, sie nur den Schlüssel umzudrehen brauchte, um die große, dunkle Pforte zu öffnen, überkam sie plötzlich der Wunsch, noch irgend jemand etwas Liebes zu erweisen, bevor sie schied. Daran hatte sie nie vorher gedacht, sonderm immer nur an sich uud ihr Weh.

Langsam schritt sie hin uud her auf dem weichen Teppich, der ihren Schritt zur Unhörbarkeit dämpfte. Wie traulich gerade jetzt alles aussah, was sie umgab! Wie glücklich, o wie unbeschreiblich glücklich war sie einst in diesen hellen behaglichen Räumen gewesen, in denen sich fast an jedes Stück irgend eine Erinnerung knüpfte, wie glücklich könnte sie noch darin sein, wenn nicht das Beste an jeder dieser Erinnerungen tot wäre!

So, wie es nun war, in dieser Stunde, sah sie alles vielleicht zum letztenmal, so, mit dem traulichen Lampenschein, mit den heimlich zugezogenen Vorhängen. Morgen um diese Stunde hatte sie vielleicht schon kein Verständnis mehr dafür.

Wie laut doch die Uhr tickte! Die kleine Rokokouhr, die er ihr gleich nach der Hochzeit geschenkt hatte. Ob sie wohl auch künftig immer regelmäßig aufgezogen werden würde? Das hatte sie bisher immer selbst gethan; das kleine Werk hatte nie stillgestanden, so lange sie es besaß.

Und ihr liebes Klavier! Wie lange sie es nun schon nicht mehr berührt hatte! Den Ton hörte sie wohl nicht wieder in diesem Leben. Sie schlug den Deckel zurück und fuhr mit der Rechten leicht, als wollte sie Accorde greifen, über die Tasten, ohne doch einen Ton anzuschlagen. Nicht – o nein! Sie hätte den Klang nicht ertragen. Dann schloß sie leise wieder den Deckel und zog den Schlüssel ab. Wer wohl auf diesen Tasten spielen würde – später?

Und dann lächelte sie trübe. Wie, das waren doch nicht Thränen, die ihr in die Augen stiegen? Sie ging ja doch freiwillig und gern.

Wie sonderbar losgelöst von allem sie sich schon vorkam, wie ihr alles nur noch erschien, als habe sie es früher einmal besessen!

Damals, in der kurzen Zeit ihres Glücks, waren ihr diese Räume doch ein inniggeliebtes Heim gewesen. Sie verließ es freiwillig und gern, weil es ihr kein Heim mehr war. Aber daß ihr die Thränen kamen und langsam, schwerfällig eine nach der anderen ihr über die Wange rollten, das konnte sie nun doch nicht hindern.

Das Glas – wo war doch das Glas? Ja so, in ihrer Tasche, natürlich.

Sie zog es hervor uud hielt es wieder gegen das Licht, das sich in der vielfach abgeschliffenen kleinen Oberfläche blitzend spiegelte. Dann schloß sie schnell die Finger darüber. Morgen gehörte der Tag seinem geheimnisvollen Inhalt, heute war es besser, es nicht mehr anzusehen.

Heute abend, wenn sie, wie gewöhnlich, allein daheim blieb, wollte sie ordnen, was zu ordnen war, dann morgen in der Frühe die verhängnisvollen Tropfen nehmen, das kleine Glas vernichten, so daß nichts zurückblieb, was auf eine Spur hätte leiten können, die wenigen Menschen, an welchen ihr lag, noch wie zufällig aufsuchen – und abends würde sie dann, wie der alte Mann gesagt hatte, früh müde werden, sich zur Ruhe begeben und – ja, am nächsten Morgen tot in ihrem Bette gefunden werden wie eine ruhig Schlummernde. Und so war es am besten. Sie überdachte es so klar, als wenn sie sich nur zu einer kleinen Reise rüstete.

Nun hörte sie die Thürglocke, uud jetzt trat mit kurzem Gruß ihr Mann ein. Die Lampe im Eßzimmer wurde angezündet, und sie setzten sich zum Abendbrot nieder, welches die kleine Magd inzwischen aufgetragen hatte. Frau Agnes genoß nichts, sondern saß, leicht zurückgelehnt, offenbar nur aus Höflichkeit da, und der Mann aß eilig, ohne viel auf sie zu achten.

Sie sprachen nicht miteinander. Das thaten sie jetzt überhaupt so selten, sie hatten sich so wenig zu sagen. Nur einmal fragte er, da er merkte, daß ihr Teller leer blieb, ob sie nicht essen wolle.

„Nein,“ entgegnete sie kurz, und er sagte nichts weiter darüber.

Als er seine Mahlzeit beendet hatte, stand er auf und ging sofort hinaus, und sie kehrte in die Wohnstube zurück, schloß ein Fach ihres Schreibtisches auf und nahm ein Päckchen halb vergilbter Briefe hervor.

Sie hatte sie nicht lesen, sondern gleich dem Feuer übergeben wollen, aber eines der Blätter entglitt dem umschlingenden Bande und fiel offen auf den Tisch, uud sie konnte es nicht lassen, einen Blick darauf zu werfen. Und dann las sie den Brief von Anfang bis zu Ende, setzte sich weder, löste das Band mit zögernden Fingern und begann den ersten, den zweiten, den dritten Brief zu lesen, den das Paket enthielt.

Es waren viele eng beschriebene Blätter, alle von einer Hand – die Briefe, die sie als Braut von dem Manne empfangen hatte, den sie jetzt für Zeit und Ewigkeit verlassen wollte. Wie lange war es her, seit ihre Hand sie nicht berührt hatte!

Eine große, unbeschreibliche Bitterkeit stieg in ihr empor, als sie so Seite um Seite überflog, und doch las sie weiter, wie gebannt. O mein Gott, wie konnte es denn sein, daß dies alles einst Wahrheit war!

Und doch, es war Wahrheit – damals! Manchmal in der letzten Zeit hatte sie daran gezweifelt, jetzt, da die alten, heißen Liebesworte wieder vor ihr standen, die alten, heißen Liebesworte, die sie einst so unsagbar beglückt hatten, jetzt wußte sie wieder, daß der Mann, der sie schrieb, damals nicht gelogen hatte.

O, wenn sie nur noch einmal, ein einziges Mal ein solches Wort hören könnte, ehe alles zu Ende war, es mit hinüber nehmen könnte in das lange Schweigen, das nun kam – nur ein einziges, kleines Liebeswort! Vergebens – was vergangen ist, kehrt nicht wieder!

„Du wirst mich eine Stunde hier dulden müssen,“ tönte es da von der Stubenthür her, die sich geöffnet hatte, ohne daß sie es merkte, und der Mann, an den sie gedacht hatte, schritt auf den Tisch zu. Sie fuhr empor, und im Augenblick hatte ihr Gesicht wieder den eisigen Ausdruck angenommen, den es ihm gegenüber zu tragen gewohnt war. Mit einer raschen Handbewegung schob sie die Briefe zusammen und ließ sie in den Falten ihres Kleids verschwinden.

„Ich wollte in den Klub gehen, aber das Wetter ist gerade jetzt so abscheulich, daß ich warten will, bis es besser wird. Bei mir ist nicht geheizt, ich hatte es so angeordnet. Hoffentlich störe ich Dich nicht.“

Sie schüttelte stumm den Kopf, und er machte es sich am Tische mit den Zeitungen, die er mitgebracht hatte, bequem, war auch gleich ganz ins Lesen vertieft, ohne sich weiter um sie zu kümmern.

Auch sie griff nach einem Buche und schlug es auf. Was sie zu ordnen hatte, mußte nun bis später verschoben werden, es kam ja auch auf ein paar Nachtstunden nicht an. Schlafen konnte sie ja dann später noch lange, lange.

[803] Aber sie las nicht. Sie machte nicht einmal den Versuch, ihre Gedanken auf das Buch zu richten, sie hielt es nur in der Hand. In ihren Sessel zurückgelehnt, sah sie auf den Mann ihr gegenüber, und nur wenn er manchmal von seiner Zeitung emporblickte – es geschah nicht oft – senkte sie schnell die Augen, als läse sie.

Gott, wie hatte sie ihn geliebt, diesen Mann, wie würde sie ihn noch lieben in dieser Minute, wenn er es noch wert wäre!

Sie sah ihn an, als wollte sie sich jeden Zug seines Antlitzes für die Ewigkeit einprägen. Welch ein schönes, anziehendes Gesicht er doch hatte! Freilich, es war gealtert, sie wußte nicht, seit wann, sie hatte sich so lange nicht die Mühe genommen, anders als flüchtig über ihn hinzusehen. Furchen zogen sich über die Stirn und – ja, war es denn möglich? – das dichte, dunkle Haar war an den Schläfen fast grau. Er war ja doch noch so jung, sie beide waren so jung! Wie oft hatte sie früher zärtlich und spielend über dies schöne, leicht gewellte Haar hingestrichen; eine unsinnige Sehnsucht erfaßte sie plötzlich, es noch einmal, ein letztes Mal in diesem Leben zu thun.

Er war es ja nicht wert, aber – Gott, o Gott, wie heiß liebte sie ihn noch immer! Nur deshalb ertrug sie’s ja nicht, so neben ihm hinzuleben.

Wenn sie das ihm noch sagen dürfte! Aber das kann eine ungeliebte Frau nicht thun. Und doch, morgen, wenn sie das kleine Glas geleert hatte und ganz gewiß wußte, daß sie sterben würde, dann durfte sie es. Dann war es kein Betteln mehr um Gegenliebe, und dann würde er vielleicht bereuen und um sie weinen, wenn sie tot war – eine kurze Weile wenigstens.

Ja, das wollte sie thun. Sie wollte morgen, wenn der Tod unvermeidlich war, noch einmal ihre ganze heiße, verschmähte Liebe über ihn ausschütten – morgen! Der ganze Tag lag ja noch vor ihr. Vierundzwanzig Stunden, hatte der alte Mann gesagt, brauchte das Gift, um zu töten. Sie hatte so sehnsüchtig gewünscht, zu sterben, und sie wollte und wünschte es ja auch noch unerschütterlich, aber o, wie gut war es doch, daß morgen noch ein ganzer Tag vor ihr lag, an dem sie sanft und freundlich sein durfte.

Nun faltete der Mann die Zeitung zusammen, die er ausgelesen hatte, ging an das Fenster, schob den Vorhang zurück und spähte in die Dunkelheit draußen hinein.

„Es ist stiller geworden, der Regen hat nachgelassen,“ sagte er zurückkehrend. „So will ich denn noch eine Stunde in den Klub gehen und von da gleich auf den Bahnhof. Die kleine Handtasche nehme ich jetzt mit. Ach so; ich sagte Dir wohl noch gar nichts davon, ich bin morgen nicht da, muß mit dem Nachtzuge nach Hamburg, wo ich morgen in der Frühe jemand zu vertreten habe. Vor übermorgen bin ich kaum zurück. – Gute Nacht denn, und adieu!“ Er nickte kühl, ohne ihr die Hand zu reichen, und schritt mit seiner Zeitung der Thür zu.

„Gert!“

Da stand sie mitten im Zimmer, totenblaß, mit halb geöffnetem Munde und fliegendem Atem. Dies konnte nicht sein! Daß er jetzt von ihr ging, um sie in diesem Leben nicht wieder zu sehen, mit einem frostigen „Gute Nacht und adieu“ auf den Lippen, daß sie nicht mehr seine Hand berühren, nicht noch ein einziges Mal ein gutes Wort zu ihm sprechen sollte – das durfte nicht sein! Es fiel ihr in diesem Augenblicke plötzlichen Erschreckens nicht ein, daß es ja in ihrer Macht lag, um einen Tag hinauszuschieben, was sie vorhatte. Er ging – ging jetzt – ging so – und sie hörte seine Stimme nie wieder, seine geliebte Stimme!

„Gert!“ Sie hatte es gerufeu im ersten Schreck, und er wandte sich hastig nach ihr um. Den Ton hatte er lange nicht gehört – er wußte selbst kaum, wie lange nicht.

„Aus Barmherzigkeit, gehe nicht so von mir, heute nicht! Sprich ein freundliches Wort!“ sagte sie mit zuckenden Lippen, die Hände fest ineinander pressend.

„Agnes,“ rief der Mann und war an ihrer Seite, „das bittest Du?“

„Es könnte vielleicht eine Zeit kommen, wo es Dich reute, so von mir gegangen zu sein!“

Er sah sie verständnislos an, so bleich wie sie.

„Ein freundliches Wort erbittest Du, Du, die es mir versagt hat diese lange, lange Zeit? Agnes, Agnes, kannst denn auch Du es so nicht länger ertragen?“

Sie schüttelte den Kopf; sprechen konnte sie nicht.

„Ein freundliches Wort,“ sagte der Mann, und eine unbeschreibliche Bitterkeit klang aus seiner Stimme, „ich habe ja nicht gewagt, es Dir entgegen zu bringen, es erstarrte mir auf den Lippen, wenn Du mir Dein eisiges Gesicht zuwandtest. Ein freundliches Wort – Gott im Himmel, wie habe ich gelechzt danach, es sprechen zu dürfen, aber ich meinte, es würde an Deiner Unnahbarkeit abgleiten wie an einem Stein. Und nun bittest Du darum!“

„Weiter!“ Sie wollte es sagen, aber ihr versagte der Laut.

„Ich wußte es ja, daß ich im Unrecht war, ich wußte es seit – seit jener Unglücksnacht. Aber Du selbst wolltest es, daß alles zwischen uns aus sei. Dein Blick sagte es mir täglich und stündlich. Du triebst mich von Dir. Was sollte ich denn thun? Was konnte ich thun? Ich hatte Dich lieb, trotz allem! Ja, ich habe nicht gemeint, daß ich dies noch einmal aussprechen würde – ich habe dich noch jetzt lieb, trotz allem, was dagegen zu sprechen scheint, und trotzdem Du alles gethan hast, um die Liebe in mir zu ertöten. Ich habe das mit mir umhergeschleppt wie eine Fessel, die ich nicht loswerden konnte und die um so fester anzog, je weiter Du Dich von mir entferntest. Oft habe ich gemeint, ich könnte es nicht mehr ertragen. Ein freundliches Wort! – Ich habe mir wahrlich nicht denken können, daß Dir daran noch läge.“

„Und ich starb vor Sehnsucht danach,“ sagte das junge Weib und legte die Arme um seinen Hals, als müßte es so sein. Und dann nach einer ganzen Weile fügte sie leise hinzu: „Verzeih', die Schuld war mein.“

„Mein und Dein. Laß uns beide verzeihen!“

„Ja.“

„Und neu beginnen!“

„Ja.“

„Und künftig Geduld miteinander haben, Agnes!“

Sie nickte.

„Und vergessen, was gewesen ist!“

„Ich weiß nicht, ob wir das können,“ sagte sie leise. „War es dies, was Dein Haar bleichte?“ und sie strich leise, scheu mit der Hand darüber.

Er nickte bloß.

Sie gingen auf und ab in dem traulichen Gemach, bis es Zeit wurde, daß er an seine Abreise dachte, die er nicht verschieben konnte, und als sie einsam zurückblieb, fühlte sie sich zum erstenmal seit langer Zeit nicht einsam. Sie war sehr glücklich, und als sie sich endlich zur Ruhe legte und ihr beim Entkleiden das Gläschen in die Hand fiel, stellte sie es mit einem Schaudern beiseite. – – –

Am nächsten Morgen schien die Sonne, so gut sie es im November vermochte, und der Regen, der doch so dauerhaft sich angelassen, hatte ganz aufgehört.

Der alte Mann saß in einem Lehnstuhl am Fenster und blickte gedankenvoll, als wartete er auf etwas, über den schmalen Pfad hin, der durch den Garten bis an seine Hausthür führte. Auf einmal lächelte er und stand auf.

„Da ist sie,“ sagte er für sich. „So bald, das hätte ich kaum gedacht!“

Draußen auf dem Flur erscholl ein leichter Schritt, und dann klopfte etwas leise an die Stubenthür.

„Herein,“ sagte der alte Mann und öffnete zugleich selbst die Thür von innen. Frau Agnes stand auf der Schwelle, errötend und sehr verlegen.

„Guten Morgen, Frau Agnes!“ sagte er und lächelte.

Sie nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte. „Ich wollte Ihnen – ich möchte Ihnen – ich bringe Ihnen Ihr Eigentum zurück,“ stammelte sie. „Ich habe keine Verwendung mehr dafür. Es hat sich alles geklärt, ich möchte leben, so lange Gott es will und – es ist mir unheimlich, dergleichen im Hause zu haben.“

Er nickte und schien sich gar nicht zu wundern.

„Ich habe Sie um Verzeihung zu bitten wegen meiner gestrigen –“ fing sie wieder an, aber er wehrte lächelnd mit der Hand ab.

„Kein Wort mehr davon, mein Kind! Es war eine Krisis, und Sie haben sie so überstanden, wie ich hoffte. Ich habe alles vergessen, bis auf das eine, daß Sie wieder glücklich sind. Aber Sie hätten das Gläschen immerhin behalten können. Wissen Sie, was es enthält?“

„Nun, ein indisches Gift!“

„Nein, Zuckerwasser,“ sagte der alte Mann und lächelte.