Spener und der Pietismus/Die Zeit von Spener und Francke

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1. Die Zeit von Spener und Francke.[1]

Die Geschichte des Pietismus zerfällt sachgemäß in zwei Epochen, von welchen die erste, etwa bis zu Speners Tod reichend (1705), ihn in seinen Anfängen und Leiden durch die Angriffe und Verfolgungen seiner Gegner, mit einem Wort, in dem Stand der Apologie und Vertheidigung, aber auch der ersten Liebe zeigt, während er in der zweiten, etwa von 1705–1730, der angreifende und siegreiche Theil ist.

Die erste Epoche zerfällt aber wieder in mehrere Akte. Als Vorspiel[625] und erster Akt läßt sich Speners Wirken in Frankfurt a. M. ansehen, von 1666–1686, wo er ganz im Sinne der Schmalkaldischen Artikel mutua colloquia[2] der Suchenden und Gläubigen aus der Gemeinde, collegia pietatis[3] genannt, in seinem Hause und unter seiner Leitung, aber in den freieren Formen von Rede und Gegenrede, unter Zurücktreten klerikaler Lehrregentschaft zum großen Segen veranstaltete. Aber als er trotz der anfänglichen Angriffe, z. B. von Conr. Dilfeld, sich damit das Vertrauen auch der Obrigkeit erworben hatte, mußte er die Erfahrung machen, daß einige seiner werthesten Freunde, verzweifelnd an der Besiegbarkeit des Widerstandes der Welt in der Kirche gegen ernstliche Bekehrung, sich separatistischen Neigungen und Irrthümern zuwandten, was auf ihn die Rückwirkung hatte, die Hoffnung aufzugeben, daß Gott es auf eine Neubelebung der ganzen Kirche abgesehen habe und ihn als zu dem einzigen Auskunftsmittel, zu dem Grundsatz der ecclesiolae in Ecclesia[4] führte, aber auch noch vorsichtiger machte. In diese erste Zeit fallen sein Pia desideria[5] 1675 und seine Schrift vom geistlichen Priesterthum 1677, die auf dem Hintergrund eines über den Zerfall der Kirche schmerzbewegten Gemüthes einen Aufriß der Reformgedanken enthalten, von denen seine Seele erfüllt war, zwei classische, tief eingreifende Schriften, denen er 1684 zur Abwehr von separatistischen Ausartungen und Mißdeutungen „Der Klagen über das verdorbene Christenthum, Mißbrauch und rechter Gebrauch“ folgen ließ. 1686 zog er nach Dresden, wo er bis 1691 blieb.

Der zweite Akt des Drama von 1686 bis zur Gründung der Universität Halle zeigt die Bewegung, zu der Spener durch Schrift, Wort, Beispiel nur den Anstoß gegeben, in ihrem selbstständigen Fortgang. Da wurde offenbar, wie bereitet[6] der Boden in allen Gegenden Deutschlands durch Besitzen und Vermissen für das war, wozu er nur den Impuls gegeben. Das Volk bedurfte nicht mehr, wie Luthern gegenüber, erst mit der evangelischen Wahrheit bekannt gemacht zu werden, vielmehr durch die Wirkung der evangelischen Predigt, von der es intellektuell gesättigt war, verbreitete sich, nachdem Spener das Losungswort „des thätigen Christenthums“ gesprochen, unwiderstehlich der Drang, mit dem Glauben, den man bekannte, auch im Leben Ernst zu machen, damit nicht, wenn es bei dem bloß[626] intellektuellen Glauben, als wäre er das Ziel, verbliebe, das Leben eine Widerlegung des Glaubens, das Dasein ein gespaltenes, eine unerträgliche Unwahrheit und Heuchelei, ja die Stätte des Skepticismus und Unglaubens würde. Und was neben der reinen evangelischen Wahrheit sich in Theologie und Kirche eingeschlichen, erweckte da, wo das Wort Gottes eine gute Statt gefunden hatte, nur um so mehr die Sehnsucht nach einer lebendigeren, gereinigteren Gestalt der Kirche und zwar, was nur eine Fortsetzung der Reformation war, so, daß im Allgemeinen die einzelnen von dieser Bewegung zu einem wahren thätigen Christenthum Ergriffenen mit der Reform bei ihrer eigenen Person den Anfang machen zu müssen anerkannten, wobei sie die von Spener wie schon von Früheren angegebenen Mittel, besonders die frommen Privatversammlungen unter Leitung gleichgesinnter Geistlicher, sowie der Schriften Speners und Anderer benützten.

Die Bewegung nahm aber wie gesagt im Fortschreiten ihren selbstständigen Gang. Spener hat sie nicht in den einzelnen Ländern und Städten gestiftet, sondern nur berathend, vor Gefahren warnend, gegen Angriffe nach Kräften schützend sie begleitet mit einer bewundernswerthen Rührigkeit, Ausdauer und Weisheit. Aber dennoch verlief sie nicht still und ruhig, sondern durch den Widerspruch sogenannter Orthodoxer ohne geistliches Leben, der sich auf die ungeistlichen Massen gerne stützte, welche dem christlichen Lebensernst eine bequemere Kirchlichkeit und ein Christenthum des Mundes entgegensetzten, entstanden in einer großen Reihe von Ländern und Städten Kämpfe und Unruhen, die gegen die neue Richtung als gegen eine Secte gerichtet waren, so in Darmstadt, Erfurt, Halle, Gotha, Jena, Wolfenbüttel, Hannover, Peine, Hamburg, Halberstadt. Die nähere Erzählung gehört der Kirchengeschichte an, wie denn überhaupt der Pietismus mehr eine Erscheinung des kirchlichen Lebens als der Theologie ist, was in diesen Kämpfen die Gegner vor Löscher meist übersahen, indem sie ihrer eingewurzelten dogmatischen Richtung gemäß nichts anderes wußten, als die ihnen fremde Erscheinung als eine dogmatische Lehre zu behandeln und als eine Ketzerei oder ein Conglomerat von Ketzereien zu verurtheilen. Sie konnten von ihrem Standpunkte, dem die Dogmatik Alles war, kaum anders. Wo die reine Lehre im Schwange sei, da müsse, meinten sie, von selbst wie nach einer Art von physischer Nothwendigkeit sich alles Andere gut und harmonisch gestalten. Denn das war ihre Voraussetzung, wenn nur[627] die christliche Erkenntniß (illuminatio) erst rein und vollständig sei, so wirke sie von selbst so auf den Willen, daß Alles auf das vortrefflichste bestellt sei. Im Vertrauen auf „die Reinheit der Lehre“ gaben sie sich daher einer Sicherheit hin, welche nur von einem florentissimus status ecclesiae[7] zu träumen wußte, verkannten, wie sie unversehens die „reine Lehre“ verunreinigt und gefälscht, das Evangelium zu einem Lehrgesetz und dogmatischen Codex verunstaltet, Natur und Gnade vermischt und den Begriff des Glaubens und der Wiedergeburt verflacht hatten. (S. o. S. 561 f.)[8] Durch all Dieses verschloß sich ihnen das Verständniß der neuen Bewegung, ja sie waren in die Nothwendigkeit versetzt, nur Verkehrtes in ihr zu argwöhnen.

Wir haben über diese Kämpfe nur wenige Bemerkungen zu machen. Einmal die, daß darin gewöhnlich Geistliche gegen Geistliche aufstanden. Die Bewegung hielt sich nämlich immerhin zunächst in den Formen und Schranken der bisherigen kirchlichen Ordnung, und Geistliche waren ihre Führer; aber allerdings Geistliche, welche eine Mündigkeit der Gläubigen wollten, auch nach einer angemessenen Nahrung und Beschäftigung für dieselben suchten. Ferner die dieser ernsten Bewegung entgegentretenden und gewöhnlich äußerlich siegreichen Theologen zeigen sich während der ersten Epoche des Kampfes geistverlassen, in Theologie wenig gewiegt, oder aber, wo es an Gelehrsamkeit nicht fehlte, wie bei der Leipziger und Wittenberger Facultät, intriguant, herrschsüchtig, wohl auch hoffärtig, scheinheilig und hinterlistig, wie J. F. Meyer in Hamburg und Schelwig in Danzig. Das tritt Seitens eines J. B. Carpzov bei den Leipziger Wirren hervor, durch die sich die feindliche Stellung der Orthodoxie entschied und wobei einen Augenblick zu verweilen ist.

In dem Jahr der Berufung Speners nach Dresden (1686), hatten sich ohne sein Dazuthun, zwei Magister, A. H. Francke und P. Anton, zu einem Collegium philobiblicum[9] in Leipzig zusammengethan, um mit andern Magistern, denen sich bald auch Studirende, ja Bürger anschlossen, tiefer in das von Seiten der Facultät in unglaublicher Weise verwahrloste Gebiet der Exegese einzudringen. Spener, den sie persönlich noch gar nicht kannten, freute sich und wurde für ihr Unternehmen Berather und Anwalt. Sie stellten sich unter das Präsidium des Prof. der Theologie Alberti und unter die akademische Genehmigung. Da aber das Unternehmen den[628] überraschendsten Fortgang hatte, hunderte von Studirenden nun die heilige Schrift eifrigst studirten, die Collegia und Dissertationes der Professoren, die ganz andere Dinge, besonders auch aristotelische Metaphysik trieben, versäumten; da ferner das gemeinsame Lesen der heiligen Schrift, namentlich seit Francke’s zweitem Aufenthalt in Leipzig, auch sichtlich auf Erweckung eines frommen Sinnes und Eifers wirkte, der nicht immer in den Schranken der Besonnenheit und Bescheidenheit sich hielt, so veranlaßte die Facultät eine Untersuchung, bei der zwar Francke und Anton keines Fehlers in Leben oder Lehre überführt wurden, in Folge deren aber doch das Collegium philobiblicum geschlossen und A. H. Francke das Recht zu theologischen Vorlesungen entzogen ward, ohne daß das Spener abzuwenden vermocht hätte. War doch seine eigene Stellung in Dresden inzwischen, durch treue Pflichtübung als Gewissensrath des Fürsten erschüttert, welche Gelegenheit nun Carpzov wahrnahm, um offener und bitterer gegen „den Pietismus“[10] (denn diesen Namen hatten die Gegner dieser Bewegung in Leipzig gegeben) zu Felde zu ziehen. Dessen Häupter verließen allmählig Chursachsen, nicht ohne daß die Folgen solcher Störung der inneren Entwickelung in Sachsen[11] lange nachgewirkt hätten.

Sie fanden in Churbrandenburg eine Freistätte. Spener wurde als Probst an die Nicolaikirche zu Berlin 1691, Schade[12] ebendahin, wo schon Lange[13] war, Francke, Breithaupt, Anton an die 1694 gegründete Universität Halle berufen. Damit gewann der Pietismus „eine staatskirchliche Anerkennung und eine theologische Repräsentation.“ Die neue Universität gelangte rasch zu großem Flor. Halle wurde der Mittelpunkt des Pietismus. Dazu trug A. H. Francke’s Waisenhaus,[14] die v. Canstein’sche Bibelanstalt, das von Halle aus begonnene Missionswesen und Francke’s planmäßige, ausgebreitete Thätigkeit für Pädagogik bei. Aber die Angriffe ruhten auch im letzten Theil der ersten Epoche nicht. Spener wurde von Schelwig, Carpzov, Alberti und der Wittenberger Facultät (deren geistloser Sprecher zweimal Deutschmann[15] war), Francke von J. F. Mayer, der durch Intriguen und Gewalt in Hamburg über Horb den Sieg äußerlich davon getragen, wegen seiner Beiträge zur Verbesserung von Luthers Bibelübersetzung, Schlag auf[629] Schlag wie nach einem verabredeten Plane literarisch mißhandelt. Aber die Angriffe waren so ungeschickt, maßlos ungerecht und Blößen gebend, daß das öffentliche Urtheil der Gemeinde durch sie wie durch Speners gelungene und unermüdliche Vertheidigung nur zu Gunsten des Pietismus gestimmt werden konnte, obwohl da und dort auch schon Ausartungen sich eingestellt hatten. So trat der Pietismus in seine zweite Epoche ein, die von Speners Tod (Februar 1705) bis ins vierte Jahrzehent des vorigen Jahrhunderts reicht.

Der Kampf dauerte zwar noch fort, ja jetzt erst fand die Orthodoxie einen würdigeren, durch Frömmigkeit wie Gelehrsamkeit ausgezeichneten Vertreter an Val. Ernst Löscher,[16] (Superintendent in Dresden † 1749), in seinen Unschuldigen Nachrichten von 1702–1719 und seinem Timotheus Verinus in 2 Bänden, dem als nicht ebenbürtiger, der Ruhe und Demuth ermangelnder Gegner Joachim Lange[17] gegenüberstand. Jetzt erst wurde der Kampf wissenschaftlicher geführt, indem man beiderseits versuchte, den gegnerischen Standpunkt auf die Einheit eines Princips zurückzuführen. Aber diese Streitliteratur führte so wenig als das durch Löscher veranlaßte Friedensgespräch zu Merseburg zu einer Verständigung. Löscher ließ nicht ab von den dogmatischen Sätzen, die mit Recht dem Pietismus Anstoß gegeben, ja er verschärfte sie zum Theil; als Schriftsteller führte er die Anklagen fort, die in mündlichen Verhandlungen sich schienen beruhigt zu haben. Der Pietismus aber fühlte sich in überlegener Kraft und ging zum Angriff über. So konnte nur der Erfolg über den Sieg entscheiden, und dieser war der Orthodoxie ungünstig. Löscher stand allmählig im Kampf fast allein und wurde Freund und Feind beschwerlich. Auch orthodoxe Theologen, wie Buddeus,[18] zogen sich von ihm zurück und die Mehrzahl der bedeutenderen jüngeren Kräfte zog es vor, eine Vereinigung von Orthodoxie und Mystik zu suchen, wie sie Val. E. Löscher wohl mit dem Verstande als das, was Noth thue, erkannt hatte, aber ohne in der ihm eigenen dogmatischen Steifheit noch im Stande zu sein, dieser Erkenntnis in seiner Theologie Folge zu geben.

[630] Wenden wir uns nach diesem äußern Umriß der Geschichte des Pietismus nun seinem innern Wesen zu, so weit es für die Geschichte der Theologie von Wichtigkeit ist, so sind es vornehmlich drei Punkte, die für Speners und der Seinen Plan zu einer Reform, oder besser einer Regeneration der Kirche in Betracht kommen:[19] die Theologie, die Kirche, die Welt der christlichen Sitte. Eine Regeneration der Theologie will er nicht sowohl nach Inhalt als Form, nach der Art und Weise ihres Betriebs und der Methode des theologischen Studiums. Die lehrende Kirche soll im lebendigen Glauben stehen, in der Wiedergeburt, die Wissenden sollen vor allem auch Glaubende sein und nicht die Wissenschaft zum Ersatz der christlichen Frömmigkeit nehmen wollen, da vielmehr selbst wahre Wissenschaft den Glauben, die Wiedergeburt voraussetzt, wie auch seit Alters die Theologie als ein habitus practicus[20] bezeichnet zu werden pflegte und die πίστις als Basis aller γνῶσις[21] längst anerkannt war. Um zu dieser Umgestaltung der Lehrer zu gelangen, wird eine Umgestaltung des theologischen Studiums gefordert. Das Studium der heiligen Schrift als des sichersten Mittels zur Erweckung und Bekehrung und durch sie zur wahren Erleuchtung soll in den Mittelpunkt des Ganzen gestellt, alles Andere aber auf diesen praktischen Zweck der Selbsterbauung und der Bildung der Kraft, Andere zu erbauen, bezogen werden.

Der zweite Punkt betrifft die Kirche. Der Pietismus will nicht bloß eine Lehrerkirche, der die Hörer in Passivität gegenüberstehen, sondern eine lebendige Volkskirche. Spener bringt dem geistlichen Amt, das wieder in katholisirenden Gegensatz zu den „Laien“ getreten war, die Idee des allgemeinen geistlichen Priesterthums der Christen in Erinnerung, die er ächt reformatorisch auf die Wiedergeburt durch den rechtfertigenden Glauben baut und die er vor allem als Pflicht der Mitwirkung zum Reiche Gottes behandelt, als Recht aber insofern, als es nichts geben kann, wodurch das Recht seine Pflicht zu thun sistirt werden dürfte. Der Laien Passivität und Lethargie soll der endlichen Bethätigung des ethischen Triebes weichen, welcher auch nach der orthodoxen Lehre die sich von selbst ergebende Wirkung des Glaubens ist. Die Kluft zwischen dem Klerus und den Laien soll zum bloßen Unterschied werden zwischen leitenden Seelsorgern und Lehrern und[631] zwischen den zum thätigen Christenthum zu erziehenden oder erzogenen und mitwirkenden Brüdern. Den christlichen Laien soll nicht bloß das Recht beiwohnen, Opfer des Gebetes für sich und Andere Gott darzubringen; sie sollen auch im Haus und unter Freunden des priesterlichen Amtes warten, die Kirche auch im Haus erbauen helfen und das Recht haben, zumal unter Leitung des Geistlichen, sich gegenseitig aus Gottes Wort zu erbauen, und in frommen Versammlungen den Mund zu Frage und Antwort aufzuthun. Könnte die ganze Gemeinde in geordnete Abtheilungen sich gliedern mit Laienvorständen für solche Versammlungen unter Leitung des Geistlichen, um so besser. Denn auch für die Organisirung der Gemeinde hat Spener einen offenen Blick. Er will in enger Verbindung mit der bürgerlichen Gemeinde und ihrer Obrigkeit presbyteriale Einrichtungen besonders für Kirchenzucht, Predigerwahl und dergl., eine Einrichtung, die freilich in zu sehr bürgerlicher Zusammensetzung durch die Kirchenconvente Württembergs von Val. Andreä um 1640 schon theilweise verwirklicht war.

Den Schlußstein bildete die Sittenverbesserung. Die religiöse Kirchengestalt sollte nun auch zur ethischen fortschreiten. Heiligung des ganzen Lebens soll ernste und vornehmste Arbeit der Christen werden. Zu dem Ende soll von der christlichen Sitte alles verpönt sein, was einer schädlichen Weltliebe Vorschub leistet und zerstreuend, zerstörend auf die ernste Sammlung wirkt, welche zur christlichen Charakterbildung erforderlich ist. Dahin wird gerechnet Tanz, Theater, Spiel, Kleiderpracht, Gelage, leichtfertige oder unnütze Gespräche und Lectüre. Spener selbst ging in dieser Hinsicht nicht so weit als der spätere Pietismus. Er erkannte sogar sittliche Mitteldinge (Adiaphora)[22] an und wollte alle jene Genüsse nur in so weit einschränken, daß er das Uebermaß verwarf, das sich ihm nach der Forderung bemaß, daß erlaubte Genüsse der Seele nicht schaden dürfen, dem Leib aber Erholung und Stärkung bringen müssen.

Die sogenannten Orthodoxen nahmen Anfangs diese Vorschläge Speners günstig auf; so nicht bloß Balth. Mentzer[23] in Gießen, sondern auch Schelwig, J. B. Carpzov und J. F. Mayer hatten nur die wärmsten Worte der Anerkennung und Empfehlung, selbst der Collegia pietatis, so lange der Regenerationsversuch nur im Reich der Worte und Gedanken oder in ferner Vereinzelung blieb. Als die Sache näher an sie herantrat mit ihren persönlichen Anforderungen und ihre gewohnte Lebensweise[632] zu stören drohte, auch eine andere Stellung zur Religion und Wissenschaft, zu Amt und Volk ihnen ansann, da warfen sie sich gegen die „Neuerungen“ in harten, leidenschaftlichen Conservatismus, und die Krankheit, die längst der Kirche in den Gliedern lag, kam nun zum vollen Ausbruch. Was bisher oft nicht eingestandene, obwohl übermächtige Neigung gewesen war, wurde nun zum ausgesprochenen Grundsatz, und es gehört zu den günstigsten Zeichen für den Pietismus, daß die Gegner, um ihn zu bestreiten, zum offenen Bekenntniß von Sätzen sich gedrängt sahen, die den evangelischen Geist verläugneten und für ein unbefangenes Auge eine Verletzung und Trübung der reinen reformatorischen Lehre enthielten, als deren allein treue Kämpen sie wollten angesehen sein. Eine Vereinerleiung der äußeren empirischen Kirche mit der inneren unsichtbaren, ja mit der Idee der Kirche, wie sie kaum im römischen Katholicismus sich findet, zeigt sich in einer Reihe von Behauptungen, die im Laufe des Streits ausgesprochen wurden. Schelwig meint, es sei sectirerisch zu sagen, der Kirche thue eine Reformation Noth. Denn „nicht die Kirche ist zu reformiren, sondern nur die Gottlosen in ihr.“ Ein aufrichtiger Lutheraner soll nicht klagen dürfen, daß die Kirche, d. h. die äußere Versammlung, viele Mängel habe, denn „damit wird die Kirche verunglimpft.“[24] Die Kirche, auch die äußere, ist vollkommen, im blühendsten Stande, denn sie hat „die reine Lehre.“ Die Wittenberger Facultät sagt in ihrer „Christlutherischen Vorstellung“ 1695: Die symbolischen Bücher sind nicht allein in Sachen und Lehren, sondern auch in andern Stücken die nach der Schrift der Kirche mitgetheilte göttliche und in allen Punkten verbindliche Wahrheit.[25] Mayer fordert von den Geistlichen die Anerkennung: in den symbolischen Büchern[26] sei nichts zu finden als Gottes wahres Wort,[27] und der Superintendent Simon, ein Nachtreter Mayers, fügt hinzu: auch wer in Articulis minus principalibus[28] irre, sei ein Ketzer (z. B. wer Speners feinerem Chiliasmus[29] anhänge) und von der geistlichen Brüderschaft auszuschließen.[30] Von einer fortgehenden Prüfung und Läuterung des Bekenntnisses an der Hand der Schrift soll keine Rede mehr sein; selbst der Unterschied[633] zwischen der fides historica und der evangelischen fides wird fast gänzlich vergessen; der Kirche wird eine in ihr selbst ruhende göttliche Autorität beigelegt, der sich zu unterwerfen Pflicht sei. Schelwig eifert gegen Speners gewissenhafte Forderung, daß Keiner die symbolischen Bücher unterschreiben soll, der sie nicht sorgfältig geprüft habe, und meint: zwar gelesen sollte sie jeder zukünftige Lehrer der Kirche haben. Aber es gehe über die Kräfte des Einzelnen, Alles in ihnen gebührend zu prüfen. Für den, der das nicht vermöge, sei es genug, daß nach seinem Begriff sich nichts Falsches darin finde: das Uebrige überlasse er seiner Mutter, der Kirche, und traue derselben als ein gehorsamer Sohn und daß sie die Glaubensbücher geprüft habe.[31] So war es nicht befremdlich, daß Manche den symbolischen Büchern eine Art Inspiration zuschrieben. (s. o. S. 559.) Aber eine Tradition mit eingebornem göttlichem Ansehen, an die Stelle der Schrift sich setzend und alles solide Schriftstudium entnervend und verfälschend, bleibt für sich ohnmächtig, wenn sie nur in Schrift und Buchstaben, nicht auch in lebendigen Personen repräsentirt ist. Jener Zug zur Verwischung des Unterschiedes zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche, zur Vergöttlichung der Kirchenanstalt wie sie war, konnte nicht ruhen, er mußte auch die Träger des Amts der Kirche mit göttlichen Prädikaten ausstatten. Und wirklich lehrt nicht bloß der genannte Simon: daß die Decisionen eines (geistlichen) Ministeriums einerlei Obligationen mit dem Worte Gottes hätten,[32] sondern selbst ein Löscher hält an der Lehre fest: weil dem Worte Gottes (mag es sich in der heiligen Schrift oder in den Bekenntnissen oder in der Predigt u. s. w. finden) die Kraft eingeboren ist, Jedem, der damit in geistige Berührung kommt, die Erleuchtung zu geben, die schon ein Anfang der Wiedergeburt ist und bei genügender Vollständigkeit diese sicher wirkt, so wohnt dem Geistlichen unabhängig von seinem Wandel eine göttliche Amtsgnade bei. (s. o. S. 562. 588.) Er ist nicht bloß ein Werkzeug, sondern eine Werkstatt des heiligen Geistes, und dem Worte (fügt Schelwig mit den Wittenbergern ohne Tadel Löschers bei) kommt seine Kraft auf die Gemüther von dem Amte. Mit welchem Eifer daher auch an der von Luther doch freigestellten Privatbeichte und an der collativen Absolution durch den Pastor festgehalten wurde, zeigt der Streit mit[634] Schade. Spener hielt gegen diesen an beidem fest; aber er legte mit Luther das Gewicht nicht darauf, daß über die wirkliche Versöhnung des Beichtenden ein zutreffendes oder überhaupt ein Urtheil gesprochen werde, wozu die Orthodoxen neigten und was auch Schade’s unrichtiger und für ihn unendlich peinlicher Anspruch an eine zulässige Beichtordnung war, sondern statt eines judiciellen Aktes über die Person war ihm die Beichte nur die Darbietung der Sündenvergebung nicht bloß an die schon Gläubigen, sondern auch an die glauben Sollenden, auf die nun freilich die Verantwortung fällt, ob sie die zuvorkommend ihnen dargereichte Gnade durch Glauben wollen wirksam oder durch Unglauben vereitelt werden lassen, nur daß die Kirche sich hüte, das Heiligthum vor die Säue zu werfen. – Endlich was die Laienwelt angeht, so legitimirte sich jene Identifikation der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche durch die Lehre von der Taufe. Conr. Dilfeld fand Speners ernste Aufforderung, daß die jungen Theologen die Erleuchtung des heiligen Geistes und die Wiedergeburt suchen sollen, überflüssig. Es bedürfe keiner besondern weitern illuminatio durch den heiligen Geist für die studiosi theologiae. Alle seien durch die Taufe wiedergeboren und haben den heiligen Geist einmal für immer.[33] Und wenn einer diese Wiedergeburt in seinem Leben nicht bezeuge, so hindere das zwar seine Seligkeit, aber nicht sein theologisches Studium. Ein Wiedergeborner habe aber überhaupt bei Erlernung der Theologie vor einem Unwiedergebornen nichts voraus. Plato und Aristoteles hätten aus fleißigem Studium der heiligen Schrift Theologen werden können, wenn sie gleich die mysteria fidei für Fabeln gehalten hätten. Spener, wenn er daher noch auf besondere Erleuchtung dringe, müsse wollen, daß die Leute sich nicht zu Theologen, sondern zu Propheten bilden sollen, und damit komme seine geheime Enthusiasterei an den Tag. Wir sind hiedurch mitten in die Frage über die Theologia irregenitorum versetzt, mit welcher die theologische Seite des Streites sich eröffnete.

Die mitgetheilten Aussprüche von Seiten der sogenannten Orthodoxen zeigen, daß ihnen die Kirche wieder zu einem in sich selbst centrirenden Wesen von unmittelbarer göttlicher Autorität geworden war, mit göttlichen Kräften und Vollmachten einmal für immer ausgestattet, so daß der heilige Geist[635] sein unmittelbares Verhältniß zu den Seelen aufgegeben, ja seine Macht und Kraft an die Kirche mit ihren Gnadenmitteln abgetreten habe. Des Antheils am Göttlichen sollten zwar dadurch die Gläubigen nicht beraubt werden. Im Gegentheil, wie der heilige Geist nicht anders als durch die Kirche wirke, so wirke er auch zuverlässig und immerdar, wo nur mit dem Wort ein Hörer in Berührung komme. Jeder, der sich mit dem Worte beschäftige, empfange ein göttliches, sich ihm präsentirendes Licht, eine übernatürliche Ausströmung, durch die er illuminatio habe und präsumtiv im Anfang der Wiedergeburt stehe (s. o. S. 547). Aber man sieht, diese Auffassung verletzt das Grundverhältniß zwischen dem lebendigen Gott und der Creatur, ist wesentlich Deismus, auf absolut supernaturalistischer Basis in magischer Form. Von der Gemeinschaft mit Gott selbst sind wir hienach abgeschnitten; Gott hat kein lebendiges, geschichtliches Verhältniß zur Welt mehr; sondern Licht und Leben, die er mittheilen will, hat er ein für allemal auf übernatürliche Weise in das Gefäß der Gnadenmittel, besonders des Wortes gelegt, die nun wie von selbst (sponte) nach ihrer eingebornen Kraft und wie nach physischem Gesetz wirken sollen. Freilich zeigte die Erfahrung nur zu sehr, was schon in der Natur der Sache liegt, daß die Verbindung mit irgend einem endlichen Ding, und wäre es das Heiligste, uns noch nicht die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott sichert, sondern daß dazu die Erhebung über das Endliche und Sinnenfällige gehört, die in dem von Aberglauben sich unterscheidenden Glauben liegt, und daß der natürliche Mensch in seinem Wesen ungebrochen blieb, nur in Sicherheit eingewiegt durch den Wahn, zu haben was er erst suchen sollte. Solches, was nur natürlicher Art ist, wurde in pelagianisirender Weise, wie J. Lange richtig erkennt, für göttlich genommen, dagegen eine höhere, innigere Theilnahme an dem Göttlichen für unmöglich angesehen und der Glaube an eine fortgehende That des heiligen Geistes zur Erleuchtung und Wiedergeburt als Schwärmerei und Enthusiasterei gebrandmarkt.

In nichts zeigt sich so klar als hier, wie das ursprüngliche, lebendige Gottesgefühl für die sogenannte Orthodoxie versiegt war, wie sie sich rein im Gebiet der Mittelursachen umzutreiben gewöhnt hatte, indem jede Erinnerung an ein lebendiges Fortwirken des heiligen Geistes ihr etwas Ueberschwängliches, Unglaubliches, ja Kirchengefährliches schien, und es ist bezeichnend für die Mattigkeit des religiösen Pulses in damaliger Theologie, daß[636] ihr die Lehre von dem lebendigen heiligen Geist wie fremd und unglaublich geworden war. Sowohl die erste Schrift gegen Spener, die von C. Dilfeld, als die erste des letzten Vertreters dieser Orthodoxie, Löschers, hatte zu ihrem Gegenstand den „Enthusiasmus.“

In dieser Hinsicht öffnet also Spener wieder die lebendigen Quellen ursprünglicher christlicher Religion und Reformation. Er stellt die unmittelbare Gottesgemeinschaft und den Antheil am göttlichen Leben und Geist nicht bloß als eine mögliche Gunst, sondern das Suchen derselben als die fundamentale allgemeine Christenpflicht dar, und diese aus Erfahrung geborne Einsicht bildet den wahren Mittelpunkt seiner ganzen Arbeit zur Herstellung und Fortführung der Reformation. Spener kennt einen lebendigen Gott, nicht einen solchen, der sich hinter den Gnadenmitteln zur Ruhe begeben hat, welche an seiner Stelle wirken, während sie doch nie die persönliche Gemeinschaft mit ihm ersetzen können, sondern zu ihr führen sollen. Er kennt eine providentia specialis, ja specialissima, ein fortwährendes übernatürliches und doch gesetzmäßiges Wirken. Die Wunder des Christenthums sind ihm nicht todte Vergangenheit, sondern setzen sich ihm, wie Luthern, täglich fort in dem Wunder der Wiedergeburt der alten Creatur zur neuen. Die Gnadenmittel sind ihm nicht Weltdinge, die nach einer ihnen übernatürlich eingestifteten Dynamik nur in natürlich gesetzmäßiger Weise himmlische Kräfte und Gnaden ausstrahlen, sondern sie sind ihm die Mittel, durch welche Gottes Geist selbst und unmittelbar an den Seelen arbeitet und sich ihnen mittheilt, auch ohne sich in Abhängigkeit vom kirchlichen Amte zu setzen, indem er vielmehr auch dieses als ein Werkzeug zur Applikation des Wortes verwendet. Und die immer bereite gnädige Mittheilsamkeit Gottes ermuthigt ihn zu der Forderung, daß wer des Predigtamtes treu und erfolgreich warten wolle, vor Allem müsse wiedergeboren sein und die Kraft des Evangeliums, das er verkündige, müsse am eigenen Herzen erfahren haben.[34]

[637] Wir werden demgemäß in diesem ersten, fundamentalen Streitpunkt über die fortgehende Wirksamkeit des heiligen Geistes und deren Nothwendigkeit bei Spener nur das Wiederauffinden der ursprünglichen, aber durch die sogenannte Orthodoxie wieder verschütteten Lebensquellen der Reformation begrüßen können. Diese Wirksamkeit des heiligen Geistes schafft und weihet eine wirkliche, lebende, thätige und freie neue Persönlichkeit, beläßt es nicht bei dem alten Ich, dessen natürliches Leben bloß durch intermittirende Akte der Sündenvergebung durch priesterliche Absolution unterbrochen und wenn nicht in Leichtsinn, in erträglicher Unseligkeit gehalten ist,[35] sondern er wirkt, worauf er es abgesehen, ein zusammenhängendes Leben der neuen Persönlichkeit, das sich in wachsender Heiligung fortbewegt. Spener und der ganze ächte Pietismus zeigt einen tiefen Eindruck davon, daß Gott es im Evangelium nicht bloß auf Versöhnung oder Rechtfertigung angelegt hat, sondern daß das Ziel, wofür diese allerdings wieder das unerläßliche Mittel sind, das sittlich reine, Gott wohlgefällige Leben ist. Dieser ethische Charakter ist Speners Wesen und seiner Schule tief eingeprägt. Schon Wiedergeburt und Glauben faßt er nicht, wie es üblich war, als bloßes Gotteswerk, wobei der Mensch sich mere passive verhalte, eine These, wobei der absolute und dualistische Prädestinatianismus nur mit Inconsequenz abzukaufen war, sondern es gehört ihm ernste Buße, wahre Sehnsucht nach der Gerechtigkeit zu den Vorbedingungen des Genusses der Begnadigung. In dem die Rechtfertigung vermittelnden Glauben ist daher, sagt Spener, wie Musäus und einige Andere, schon auch als Trieb und Lust die Liebe zu dem was gut und heilig ist, gesetzt – opera sunt in fide praesentia – wenn gleich die Rechtfertigung nicht Wirkung oder Verdienst dieser Werke ist, die keimweise dem wahren Glauben eingeboren sind. Endlich aber, wie gesagt, erhält die Ethik ihre Stelle, wie vor und in, so auch nach der Wiedergeburt. Denn die neue Persönlichkeit ist nicht da um zu feiern und zu genießen, sondern um zu arbeiten an der Heiligung ihrer selbst. Diese heiligende Arbeit besteht dem Pietismus theils in der Selbstverläugnung[638] gegenüber von der Lust an der Welt und ihren Freuden, theils in dem Wirken für die Vermehrung des Reiches wiedergeborner, sich im Fleiß der Heiligung übender Persönlichkeiten. Je tiefer bei Spener der Eindruck von diesem ethischen, produktiven Charakter der Gnade ist, desto lieber verweilt er bei dem Gedanken, welche selige Umwandlung der Welt bevorstehen müsse, wenn nun der evangelische Glaube anfange, ins Leben zu gehen: und so ist es die Hoffnung besserer Zeiten noch auf Erden, die seinen theuersten Glauben aussagt und die er noch auf dem Sterbebette bekannte, indem er verordnete, daß man ihn in einem weißen Sterbekleid in einen weiß angestrichenen Sarg lege, weil er keinen schwarzen Faden mit ins Grab nehmen wolle, da er über den betrübten Zustand der Kirche lange genug, nicht nur äußerlich mit seiner schwarzen Kleidung, sondern auch innerlich in seinem Herzen getrauert habe. Diese Hoffnung ist aufs Tiefste mit seiner ganzen Eigenthümlichkeit verwachsen. Das ethische Handeln für die Kirche bedarf (s. o. S. 593 f.) der Hoffnung, um die Liebe mit Muth und Thatkraft zu erfüllen; es bedarf ihrer aber auch, weil die Hoffnung die Ideale und höchsten Zweckbegriffe bilden muß, die als Inhalt den Willen zu leiten haben. Er sieht nicht, wie so Viele in der lutherischen Kirche, den irdischen Lebenszweck als erfüllt an, wenn die Seele durch Vergebung der Sünden gerettet ist. Mit Spener tritt eine selbstständige, noch dieser Erde geltende Lebensaufgabe kräftig ins Bewußtsein und der Pflicht, Versöhnung und Wiedergeburt zu suchen, zur Seite. Eine wachsende ethische Selbstdarstellung der Christen und in ihnen des Christenthums gehört ihm noch zu den Aufgaben der irdischen, nicht erst der himmlischen Geschichte des Reiches Gottes. Sein 1000jähriges Reich denkt noch nicht Sünde und Uebel aus der Kirche verschwunden, sondern nur gemindert; auch will er nicht schon eine sichtbare Regierung der Kirche durch Christus, oder gar durch abrupte, göttliche Thaten das sittliche Werk der Menschheit ersetzen, vielmehr sieht er darin wenigstens überwiegend das Produkt der sich heiligenden und darum an der Heiligung Andrer arbeitenden, wiedergeborenen Menschheit. So nimmt die Spener’sche Eschatologie im zweiten Jahrhundert der evangelischen Kirche wesentlich dieselbe Stelle ein, welche der Chiliasmus der alten Kirche eingenommen: sie ist ein Zurückrufen des einseitig dem Transcendenten, dem Jenseits zugewendeten Geistes von dem Wahne, daß nach gewonnener Seligkeit im Glauben auf Erden nichts wesentlich[639] Neues mehr zu beschaffen, sondern nachdem das Höchste schon gewonnen, dieses nur zu bewahren sei, bis ein neues ebendaher sehr nahe gedachtes Stadium mit dem Jenseits beginne, ein Zurückrufen zu der Arbeit auf Erden, zu den ethischen Werken des Diesseits. In dieser unscheinbaren Hülle „der Hoffnung besserer Zeiten noch auf Erden“ beginnt bereits wie im zweiten Jahrhundert – da nicht sentimentale Schwäche, sondern ein straffer ethischer Sinn diese Hoffnung hegt – das Bewußtsein davon zu tragen[In der Vorlage: tagen], daß die evangelische Kirche gerettet im Todeskampf des dreißigjährigen Krieges noch eine große weltgeschichtliche Aufgabe an sich und an der Welt zu lösen habe: ja der Pietismus hat das große Verdienst, noch in die Anfänge dieser neuen Bahn eingeleitet zu haben. Das zeigen mikrokosmisch weissagend die manchfachen hallischen Anstalten;[36] das zeigt der durch ihn erwachende Missionssinn, wie denn die Bekehrung der Juden ein Glaubensartikel Speners war, während in der Orthodoxie der Missionssinn für Heiden und Juden noch völlig schlummerte.

Diese Lichtseiten des Pietismus schließen nun aber keineswegs ein, daß Speners Standpunkt schon befriedigend heißen könne für die evangelische Kirche, oder gar daß der Pietismus im Allgemeinen tadellos dastehe. Allerdings trägt an seinen Fehlern eine Hauptschuld der Widerspruch und die Feindschaft theils des weltlichen Sinnes überhaupt, theils derer, welche die Kirche zu vertreten meinten und ihn, der ursprünglich für die ganze evangelische Kirche sein wollte, in sich zurückwarfen, wodurch er Schärfen und eine gewisse Enge annahm, die er bei Spener noch nicht hatte, wo er noch weich und kirchlich bildsam gewesen wäre. Aber er hat sie auch nicht abgestreift, als er zur Herrschaft gekommen war, und die Stelle der alten Orthodoxie gleichsam zu ersetzen hatte.

Das zeigt sich schon an der Auffassung des Ethischen. Der Inhalt der pietistischen Ethik zu der vom lebendigen Glauben aus fortgeschritten werden will, ist eigentlich doch fast nur wieder die Frömmigkeit selbst. Er gelangt wenigstens für die Erde nicht zur Idee einer lebensvollen, manchfaltigen Welt, die vom Geiste der Religion beseelt, alle Kräfte und Anlagen der ersten Schöpfung durch das Princip der zweiten zur harmonischen Verwirklichung zu bringen habe, sondern das Ethische erscheint ihm nur unter dem Gesichtspunkt der Heiligung der einzelnen Persönlichkeit, d. h. in der Behauptung und Stärkung des Göttlichen von der Sünde abgewandten[640] Sinnes. Zu der „Welt“ nimmt die pietistische Ethik eine überwiegend negative Stellung ein: sie ist mit ihr in Spannung. In seiner ernsten Auffassung des Bösen unterscheidet der Pietismus zu wenig „Welt“ und „Welt“, wozu auch der Umstand beiträgt, daß er die Neuheit des Christenthums, als einer neuen Schöpfung nicht ohne Einseitigkeit betont. Demgemäß hat diese Ethik, was das Verhältniß zur Welt angeht, mehr negativen, beschränkenden Charakter: der Geist wagt noch nicht, es mit der Welt aufzunehmen, um sie sittlich zu organisiren und zusammenhängend in dem Vertrauen zu gestalten, daß die anerschaffnen Kräfte nach ihrem Lebensgesetz behandelt und normal wirksam von selbst dem Reiche Gottes dienen müssen. Es ist vortrefflich, daß der Pietismus im Allgemeinen erkennt: jeder Moment des Lebens müsse heilig, Gott geweiht sein, es sei daher keine Stelle für Lebensmomente, die gar nicht unter sittliche Würdigung fallen, für sogenannte Adiaphora oder Mitteldinge, auf die nur der Begriff des Erlaubten anzuwenden sei. Aber wenn sich das Verhältniß zur Natur überwiegend auf Bekämpfung und Enthaltung beschränkt, so fehlt es doch großentheils an einer positiven sittlichen Aufgabe, die das ethische Leben bereichern und das Princip des thätigen Glaubens zur Entfaltung bringen könnte. Die Idee der ethischen Gestalt des Menschen ist also noch zu abstract und nicht allseitig genug umfaßt sie die ganze sittliche Bildung. Namentlich erhält Kunst und Wissenschaft eine gar precäre und zufällige Stellung. Ja das ganze ästhetische Gebiet in seinem weitesten Umfang bringt es bei ihm zu keiner weiteren Anerkennung als der eines nothwendigen Uebels. Kein anderes positives sittliches Handeln kennt und will der Pietismus, als welches der Erweckung und Bekehrung diene, also der Frömmigkeit. Was sich nicht so ansehen läßt, ist ihm werthlos, wenn nicht verdächtig und schädlich. So kräftig also allerdings die Frömmigkeit oder der Glaube ethisch gefaßt ist, eben so energisch ist doch wieder dieser ethisch gefaßte Glaube als das Ganze genommen; das Princip ist wieder, wie in anderer Weise in der Orthodoxie so selbstgenugsam, daß es sich gegen seine freie Entfaltung aus Furcht vor Selbstverlust sträubt und daß sogar die Thätigkeit, die ihm allerdings beiwohnt, wesentlich darauf ausgeht, durch die Thätigkeit einfach zum Princip zurückzukehren. Denn diese hat nur zum Ziel, die Selbstbehauptung des Princips gegenüber von der „Welt“ und die Vervielfachung seines Daseins in neuen gläubigen Persönlichkeiten. Ja[641] sieht man auf das oberste im Pietismus geltende Motiv, so ist es die „Sorge für das Heil der eigenen Seele,“ welches nach Gottes Gesetz einem unthätigen Glauben nicht zu gute kömmt. Aber damit ist der Mensch noch nicht über die Gesetzlichkeit und über die Furcht hinaus: er hat noch nicht die Liebe gegen den Nächsten zum treibenden Motiv, denn die Liebe sucht was des Andern ist, macht ihn zum Zweck, nicht bloß zum Mittel, um durch Erfüllung der Pflichten an ihm die eigne Seligkeit sicher zu stellen. Neigt also die lutherische Orthodoxie dazu, bei dem Glauben als dem Besitz der Versöhnung, dem religiösen Princip des neuen Lebens, stehen zu bleiben, und das Princip zu genießen statt es als Anfang und treibenden Impuls zur Thätigkeit zu verwenden, so will der Pietismus zwar nicht in spiritualem Egoismus d. h. in geistlicher Genußsucht stehen bleiben, er predigt den „thätigen Glauben“ und er verleibt dadurch das Wesen der reformirten Glaubensauffassung auch der lutherischen Kirche ein. Aber dieser „thätige Glaube“ hat doch gleichfalls die Schranke des Ich noch nicht wahrhaft durchbrochen, da sein Heil und dessen Bewahrung, nicht aber das Heil des Nächsten das Motiv bildet, die Triebfeder also noch die Sorge für sich selbst, nicht die selbstvergessene Liebe ist. Mit diesem Mangel in dem ethischen Wesen des Pietismus hängt es nun zusammen, daß derselbe etwas Gebundenes, Unfreies, in der Pflichtmäßigkeit Aengstliches, aber nichts freudig Schaffendes hatte. Diese Art, den Nächsten entweder nur als Mittel für das eigne Heil, als Stoff der Pflichterfüllung oder als Mittel für Gottes Ehre zu verwenden, enthält nun, weil die Liebe durch Pflicht ersetzt werden soll, den innern Grund von dem Mangel an wahrhaft kirchlichem Sinn in dem Pietismus. Der kirchliche Sinn der Orthodoxen mag allerdings oft genug nur der natürlichen Liebe entstammt sein, während der Pietismus durch Negation des bloß Natürlichen eine höhere Lebensstufe suchte. Aber da er, wie gezeigt, statt in der selbstvergessenen aus dem Glauben gebornen freien Liebe das Höchste zu erkennen, auf der Stufe stehen blieb, wo das Subject mit sich selbst und seinem Heil beschäftigt, Alles auf diesen Zweck bezieht und als Mittel dafür verwendet, so verlor er die alten, natürlichen Bande der Anhänglichkeit an die äußere Volks- und Kirchengemeinschaft (die ihm auch durch Verfolgung wie durch seine eigne Spannung mit der Welt gelockert wurden), ohne sie durch das neue, höhere Band der christlichen Liebesgemeinschaft ersetzen zu können. Bei einer reicheren Ausbildung des[642] Weltbewußtseins und besonders bei einer richtigeren Erkenntniß des Verhältnisses zwischen der ersten und zweiten Schöpfung, wäre vielleicht doch der Energie des ethischen Triebes in ihm möglich gewesen, eine befriedigendere Stellung zur Kirche, zum Staat, zur Wissenschaft, zur Kunst, zum socialen Leben einzunehmen. Aber theils auf sich zurückgeworfen, theils das All des wahren christlichen Lebens in dem Rahmen seiner Bestrebungen findend, hat er sich in eine Enge zusammengezogen, die alle jene Gebiete zu wenig würdigte, sowohl an sich als im Verhältniß zum Christenthum, und den Geist zu einer neuen Form mönchischer Lebensanschauung innerlich disponirte. Um nur bei der Wissenschaft stehen zu bleiben, so weiß der Halle’sche Pietismus ihren Werth keineswegs gerecht zu würdigen. Denn nicht bloß will er, unter Verkennung der ganzen großen sittlichen Aufgabe des Menschengeschlechts nur das der Religion unmittelbarer dienende Wissen gelten lassen, und stellt so die Wahrheit, statt sie in ihrer objectiven Selbstständigkeit und Heiligkeit anzuerkennen, unter den einseitigen Gesichtspunkt des Erbaulichen d. h. des für die Frömmigkeit Nützlichen, sondern er hat auch in dem Streit über die theologia irregenitorum, in welchem er mit Recht die Sprache des religiösen Gewissens dem leichtfertig gewordenen Scholasticismus entgegen führt, doch gar nicht ausschließlich Recht, sobald er sich wissenschaftlich ausspricht. Und zwar nicht bloß, weil mit seiner Forderung: der wahre Theolog müsse auch ein Wiedergeborner sein, zugleich ein praktischer Grundsatz für die Kirchenleitung und die Wahl der Personen ausgesprochen schien, der nicht ohne Aufstellung willkürlicher Kriterien der Wiedergeburt, und nicht ohne die Gefahr Heuchelei und Fanatismus zu begünstigen, durchführbar wäre. Sondern wenn er dem Satz der sogenannten Orthodoxen: „daß wahre Erleuchtung schon vor der Wiedergeburt stattfinden könne durch Berührung mit den Gnadenmitteln, ja daß sie es müsse, weil erst aus solcher Erleuchtung die Wiedergeburt folgen könne,“ entgegenstellt: Die Wiedergeburt müsse allem wahren Erkennen vorangehen, so ist auch dieses einseitig und das Moment des Erkennens der objectiven Wahrheit für die gesunde Frömmigkeit unterschätzt. Eine Wiedergeburt, der nicht eine wahre Erkenntniß von Gottes Gesetz, eine sittliche Selbsterkenntniß, ja auch eine Sehnsucht oder Ahnung des Heiles vorangeht, könnte, da sie das Erste sein müßte, nur in blinder magischer Weise über den Menschen kommen. Man wird also keinem der streitenden Theile hier ganz Recht geben können, weil[643] die Wahrheit vielmehr darin besteht, daß der normale Lebensproceß ein Kreislauf ist, welcher das anfänglich freilich noch unvollkommne Erkennen mittelst der gläubigen Aneignung der Gnade im Willen und Gefühl auf die Stufe christlicher Erleuchtung erhebt. Ebenso ist es freilich eine der äußersten Verkehrtheiten der sogenannten Orthodoxie gewesen, wenn sie die Wirkung des Wortes Gottes von dem Amt und der Amtsgnade bedingt sein ließ. Damit wird ja, im Widerspruch mit dem materialen Princip der Reformation der Genuß des Heiles noch von weiteren Heilsbedingungen abhängig gemacht, als von Wort und Glauben. Allein wenn der Pietismus sich dazu fortreißen ließ, daß, weil nur ein Wiedergeborner ein wahrer Theolog sei, auch nur die von einem Wiedergebornen kommende Predigt zum Heil wirksam sein könne: so tritt das nicht minder als jene These der sogenannten Orthodoxen der Selbstständigkeit des Wortes, und der in der christlichen Wahrheit als solcher beschlossenen Kraft zu nahe. Dagegen der häufige Vorwurf, daß der Pietismus Wort Gottes und Sakramente verachte, ist eine falsche Beschuldigung; denn er will zwar eine unmittelbare aber darum nicht eine unvermittelte Gemeinschaft mit Gott im heiligen Geist. Die Vermittelung ist ihm das Wort. Vom heiligen Abendmahl sagt Spener sogar, daß es das vornehmste Mittel sei, dadurch wir der göttlichen Natur sollen theilhaft werden, was die Wittenberger Facultät so wenig ächt lutherisch fand, daß sie dem entgegenstellte: Das Abendmahl ist zwar ein kostbarer Schatz, aber keineswegs dem Wort oder der Taufe vorzuziehen.[37] Nur der Kindertaufe konnte der Pietismus nicht die hohe Bedeutung geben, wie die Orthodoxen, die das opus operatum nicht scheuten. Die Betonung der subjectiven Seite im Heilswerk, und das Gewicht, das auf das Bewußtsein vom Gnadenstand gelegt wurde, mag sogar dem Pietismus nicht selten die Wichtigkeit einer Entwicklung des christlichen Selbstbewußtseins auf der Basis der persönlichen durch die Taufe bezeugten zuvorkommenden Gnade Gottes verdunkelt haben.

Man sieht, der Pietismus mit dem was ihm eigenthümlich ist, kann das Bedürfniß der Regeneration der Kirche in Wissenschaft und Leben nicht genügend befriedigen. Er kann so wenig die Stelle der ganzen Kirche[644] vertreten, als etwa innerhalb des Katholicismus das Mönchthum. Es ist wahr, die Gegner des Pietismus vertraten im Allgemeinen noch weniger rein als er die Sache der Kirche; denn das Wahre im Pietismus, das zugleich das der Zeit unmittelbar Nöthigste war, ist nicht minder für die wahre Kirchlichkeit die Voraussetzung, als die objectiven Gnadenmittel es für die Kirche sind. Aber daraus folgt nur, wie sehr beiden streitenden Theilen die Einigung in einem höhern zusammenfassenden Standpunkte Noth that.

Der norddeutsche Pietismus selbst ließ es, obwohl er gelehrte Männer zu seinen Anhängern zählt, doch spürbar an Pflege der strengeren wissenschaftlichen Arbeit fehlen. Mit aller Kraft wurden die Studirenden zu frommer Selbstbildung angeleitet, aber nicht ebenso bestimmt war erkannt, daß zur Sittlichkeit des Studirenden das Studiren gehört, ernste, solide, wissenschaftliche Arbeit in eifriger Wahrheitsliebe. Von Philosophie namentlich meinte der Pietismus wenig oder keinen Gewinn erwarten zu können,[38] und doch war der Schöpfer des ersten von Aristoteles unabhängigen Systems in Deutschland, Leibnitz, Speners Zeitgenosse. Gegen Chr. Wolff, der zuerst das Leibnitzische System zusammenhängend darzustellen suchte, glaubte Joach. Lange die Mittel der staatlichen Gewalt aufrufen zu müssen, die ihn von Halle vertrieb. Im Uebrigen hat H. A. Francke eine Kritik der lutherischen Bibelübersetzung in seinen Observationes biblicae 1695 angefangen, aber gegen Speners Rath und ist, als die vorhergesagten Angriffe eintrafen, und zwar in der elendesten haltungslosesten Form, durch J. F. Mayer, von der Fortsetzung abgestanden.[39] Lange u. A. hat später ein großes Bibelwerk in[645] vier Bänden unter dem Titel Licht und Recht 1729 ff. herausgegeben, aber das Haschen nach Erbaulichkeit ist dem klaren und sichern Verständniß nicht dienlich. Ebenso ist sein kirchengeschichtliches Werk über die Zeit von 1689–1719 eine historische Oratio pro domo, aber nicht objective Forschung. Weit bedeutender ist in dieser Hinsicht Gottfr. Arnold,[40] der jedoch bei inniger persönlicher Frömmigkeit den Gegensatz gegen die Kirche so sehr überspannte, daß er die wahre Descendenz und Tradition der Kirche d. h. des christlichen Lebens nur bei den Ketzern suchte, wodurch er aber sich das Verdienst erwarb, auf die Nothwendigkeit, sie mehr zu würdigen, hingewiesen, die innern Beziehungen aber, die zwischen Kirche und Ketzern bestehen und die ihre beiderseitige Geschichte zu Einer untrennbaren machen, hervorgestellt zu haben. Die dogmatischen Werke endlich, an denen der Pietismus es nicht fehlen läßt, haben der Wissenschaft nichts eingetragen.[41] Man geht[646] von der scholastischen Form der Ausführung zu einer weniger schwerfälligen, gepanzerten über, aber die eigentlichen Probleme werden nicht weiter geführt, es wird eher der Sinn dafür abgestumpft und ins Unbestimmtere zurückgegangen. Die Berufung auf die Erfahrungen des Lichtes des heiligen Geistes, in den pietistischen und noch mehr in verwandten mystischen Kreisen so gewöhnlich, hätte zum Gegengewicht eine strenge wissenschaftliche Methode doppelt erfordert, um den subjectivistischen Schein, den sie an sich hat, zu meiden und diese Erfahrungen einem objectiven, allgemein erkennbaren Kriterium zu unterstellen. Aber diese Berufung auf den heiligen Geist und sein Wirken war mehr Surrogat als Impuls der wissenschaftlichen Arbeit und der Strenge der Begriffe. Befruchtender hat der Hallische Pietismus auf die christliche Moral und die praktische Theologie gewirkt.[42]

Nach A. H. Francke’s Tod (1724) artete der Pietismus in Norddeutschland, der in Halle seinen Mittelpunkt hatte, allmälig aus. Während das frische Leben und kühne Streben ihm mehr und mehr entfloh, suchte er den Geist seiner besseren Zeit durch eine bald stereotype fromme Terminologie,[647] durch äußere Zucht und unkindliche, an ein vorzeitiges Reflexionsleben gewöhnende Methodik der Anerziehung christlicher Frömmigkeit zu fesseln,[43] erzeugte aber dadurch viel Unnatur und innere Unwahrheit und verfiel dem Geiste der Gesetzlichkeit, der zwar ansteckende Kraft bewies und nach des Gesetzes Art durch Richten und Scheiden, durch geistlichen Hochmuth und Lieblosigkeit in dem Volksleben zersetzend genug wirkte, der aber an der Kraft einbüßte, in Gott freie Persönlichkeiten zu zeugen. Vielmehr nicht wenige der Häupter des Rationalismus sind aus dieser pietistischen Schule hervorgegangen.

Während aber so der Hallische Pietismus nur in anderer Art als die alte Orthodoxie verknöcherte und geistesmatt wurde, hatte unabhängig von Halle dieselbe Bewegung der Geister, die in Spener ihren vornehmsten Vertreter hatte, zwei neue kräftige Sprossen getrieben, welche, wenn schon nicht extensiv an Bedeutung dem Hallischen Pietismus gleichkommend, doch durch ihren merklich von ihm verschiedenen Charakter weit intensiver und nachhaltiger wirken sollten, indem sie wesentliche Mängel abstreiften und wahrhaft kirchliche Elemente, die dem älteren Pietismus noch fehlten, sich aneigneten. Wir meinen Zinzendorf mit der Brüdergemeinde, und Johann Albr. Bengel mit seiner Schule, beide darin eins, daß sie die christliche Freiheit und die Lieblichkeit des Evangeliums kennen[44] und einen tiefen[648] Eindruck von seiner schöpferischen Ursprünglichkeit haben, verschieden aber von einander dadurch, daß Zinzendorfs reiche und geistesvolle warme Individualität sofort einen enggeschlossenen Kreis um sich sammelt und zu einem evangelischen Gemeindeleben gestaltet, während Bengel und seine Schule mehr von weiterem kirchlichem Geiste getragen und von ihren Leiden bewegt treu in ihr verharren und für ächte, lebensvolle Wissenschaft neue, von der erstarrten Scholastik freie Bahnen einschlagen und eine neue Grundlegung gesucht, ja zum Theil gefunden haben, die bei all ihrer Tiefe den Zusammenhang mit der Gemeinde nicht verliert, sondern durchaus zugleich populäre Art bewahrt und die christliche Gemeinde befruchtet hat. Wir dürfen in Bengel und seiner das achtzehnte Jahrhundert weit überdauernden und wie ein erhaltendes Salz wirkenden Schule zugleich den Vorläufer, ja Anfänger einer erneuten Theologie sehen.


  1. [Weiterführende Literatur:] Nach v. Canstein, Steinmetz, Knapp hat Hoßbach (Spener und seine Zeit A. 2. von Schweder 1853) ein Lebensbild von Spener und seinem Wirken entworfen. Tholuck Geschichte des Rationalismus, Abth. 1. 1865, und Herzogs Realencykl. s. v. Spener. Gaß a. a. O. II, 374–499. H. Schmid, Geschichte des Pietismus, 1863. Göbel, Geschichte des christlichen Lebens II, S. 537 ff. Franck, Geschichte der protestantischen Theologie II, 130–189 und 213–240. Das reiche Material von Walch Religionsstreit innerhalb der lutherischen Kirche haben Tholuck, Schmid, Franck theils vervollständigt (besonders Tholuck) theils gesichtet und geordnet.
  2. [„mutua colloqia“, lat.: gegenseitige Gespräche oder Unterredungen]
  3. [„collegia pietatis“, lat.: Gemeinschaften der Frömmigkeit]
  4. [„ecclesiolae in Ecclesia“, lat.: „Kirchlein in der Kirche“]
  5. [„Pia desideria“, lat.: „Fromme Wünsche“]
  6. Besonders durch Männer wie die oben S. 589 Genannten. [Dort sind Paul Gerhardt und in der Fußnote Johann Arndt, Heinrich Müller, Christian Scriver, Valentin Andreä, Johann Gerhard, Valerius Herberger und Timotheus Lütkemann aufgeführt.]
  7. [„florentissimus status ecclesiae“, lat.: blühendster Stand der Kirche]
  8. [siehe:] S. 561 562
  9. [„Collegium philobiblicum“, griech.-lat. etwa „bibelfreundliche Gesellschaft“]
  10. [von „pietas“, Frömmigkeit, als ursprünglich abwertender Begriff, ungefähr „Frömmelei“]
  11. Aehnlich in Braunschweig und Hannover.
  12. [Johann Kaspar Schade, siehe ADB-Artikel]
  13. [Joachim Lange, 1670–1744, siehe ADB-Artikel]
  14. [August Hermann Francke, 1663–1727, war Professor für Griechisch und orientalische Sprachen in Halle/Saale, Gründer der Franckeschen Stiftungen, der Dänisch-Halleschen Mission und der Cansteinschen Bibelanstalt]
  15. [Johann Deutschmann, 1625–1706]
  16. Vgl. v. Engelhardt, V. E. Löscher nach seinem Leben und Wirken 1856. [Valentin Ernst Löscher, 1673–1749]
  17. J. Lange: Antibarbarus orthodoxiae dogmatico-hermeneuticus 1709–11; Die Gestalt des Kreuzreichs Christi in seiner Unschuld 1713. Erläuterung der neuesten Historie der evangelischen Kirche von 1689–1719. Halle 1719.
  18. [Johann Franz Buddeus, 1667–1729, Professor für Theologie in Jena]
  19. Vgl. Niedners Kirchengeschichte 1862. S. 801.
  20. [habitus practicus, lat.: praktische Gewohnheit]
  21. [πίστις (pistis), gr.: Glaube; γνῶσις (gnosis), gr.: Erkenntnis]
  22. [Adiaphora, grch.: „nicht Unterschiedenes“ bezeichnet ethisch bzw. geistlich neutrale Eigenschaften, Gegenstände und Verhaltensweisen]
  23. [Balthasar Mentzer der Jüngere, 1614–1679]
  24. Vgl. Schmid a. a. O. S. 234. 235.
  25. a. a. O. 244.
  26. [Symbolische Bücher sind die Bekenntnisschriften]
  27. a. a. O. 239.
  28. [Articulis minus principalibus, lat.: weniger grundlegende Artikel/Glaubenssätze]
  29. [Chiliasmus ist die Erwartung eines tausendjährigen Reichs (Millennium) auf Erden unter der Herrschaft Jesu Christi]
  30. a. a. O. 185.
  31. a. a. O. S. 235.
  32. a. a. O. S. 185.
  33. a. a. O. S. 76.
  34. An dem Inhalt der Theologie, wenigstens des Dogma beabsichtigt der Pietismus, Spener voran, der selbst einer Union mit den Reformirten nicht das Wort redet und für sich die Verpflichtungsformel mit quia sich gerne gefallen lassen will, keine Reform. Es soll nur das bisher Gewonnene aus dem Kopf in Herz und Hand übergehen. Gleichwohl führt die Betonung der heil. Schrift für den Theologen weiter. Denn indem er sie in die ihr gebührende, reformatorische Stellung wieder einsetzt, kann WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt es nicht ausbleiben, daß er der Kirche wie dem Staat das Recht absprechen muß, das Symbol für eine auf immer geschlossene und durch die Auctorität der Kirche gültige Lehrconstitution anzusehen; wie er denn auch für die Kirche im Ganzen die Verpflichtungsformel mit quatenus vorgezogen hat.
  35. Vgl. Schneckenburger, comparative Darstellung II, 276. 282.
  36. [Die heutigen Franckeschen Stiftungen in Halle begannen mit einem Waisenhaus und einer Schule und wurden später um die Dänisch-Hallesche Mission und die Cansteinsche Bibelanstalt, die erste Bibelgesellschaft der Welt, erweitert.]
  37. Schmid, a. a. O. S. 245.
  38. Obwohl Lange dagegen protestirt, daß er die Philosophie verachte.
  39. Er hat noch seine Praelectiones hermeneuticae 1723 herausgegeben, in welchen er gegen den herrschenden Canon, nach der Analogie des Glaubens d. h. der Kirchenlehre zu interpretiren, Exceptionen macht. Dabei unterschied er einen buchstäblichen und einen geistlichen Sinn, der letztere sei nur für die Wiedergebornen zugänglich, der erstere sei nur pädagogisch. Bedeutender ist J. J. Rambachs Commentatio de idoneo s. literarum interprete 1720 und seine Institutiones hermeneuticae s. 1723 mit seinen Erläuterungen dazu in 2 Thln. 1738. Er, wie J. Lange Hermeneutica s. 1733 fordert neben der philologischen Bildung von dem Schrifterklärer einen geistlichen Takt und legt ein großes Gewicht auf das Aufsuchen der Emphasen in Wörtern und Wortverbindungen heil. Schrift. Da Gott ihr Urheber sei, so müsse ihr so viel Fülle und Gewicht des Sinnes, als irgend die Worte gestatten, zugeschrieben werden. Die Analogia fidei will er als Regel des Interpreten festgehalten wissen, doch mehr als WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt Analogia scripturae s. denn als Kirchenglaube. Ihm folgte noch S. J. Baumgarten „Unterricht von Auslegung heiliger Schrift 1742.“ Den mehrfachen Schriftsinn nahm wie Rambach und Lange auch noch Hoffmann an (der mystische Sinn ist ihm allegorisch, parabolisch oder typisch), doch will er die Einheit des Schriftsinns damit vereinigen, indem er den Einen zusammengesetzt denkt, vgl. Hoffmann Instit. theol. exegeticae 1754. Die Wittenberger, Löscher u. A. vergaben auch diese hermeneutischen Abweichungen nicht.
  40. Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie bis 1688, Frankfurt 1699, 4 Bde. Schon zuvor: Abbildung der ersten Christen. Sein Zweck ist nicht rein historisch, sondern er will wenigstens mittelbar der Erbauung dienen, besonders durch Ueberordnung der Liebe über die „reine Lehre.“ Er gab von historischer Seite dem Vertrauen zu der Kirche, auch der protestantischen, einen Stoß und wandte es den Unterdrückten, den Secten, besonders den Mystikern zu. Gegen ihn schrieb u. A. Ernst Sal. Cyprian Allgemeine Anmerkungen über G. Arnolds K. und K. G. 1700. Gerade die Vertreter der „reinen Lehre“ haben nach Arnold am wenigsten Heiligkeit des Wandels und Liebe bewiesen, das protestantische Ministerium verbi divini nicht anders als das Papstthum. Das Antichristische lag ihm daher nicht mehr nur im Papstthum wie den Magdeburg. Centuriatoren, sondern in der Klerisei, der Hierarchie überhaupt. Was sie lobt, ist gewiß schlecht, was sie tadelt, hat die Präsumtion der Güte für sich. Eine tiefe Verstimmung gegen allen kirchlichen Organismus, und dessen Mittelpunkt die „reine Lehre,“ waltet in ihm; in der letzteren sieht er ein Verstandeswerk, ein opus operatum, nur eine neue Form katholischer Werkheiligkeit. Da er die bisherige Betrachtungsweise auf den Kopf stellte, und zwar tumultuarisch in monotoner Methode, so drängte dieser Gegensatz um so mehr zu der Frage, was denn die wirkliche Geschichte gewesen sei? Besonnener als Arnold der Kirche und milder als die Orthodoxen den Ketzern gegenüber hält sich Weismann Introd. in memorabil. eccl. hist. s. N. T. 1718. 1745.
  41. Spener, Evang. Glaubenslehre; ein Jahrg. Predigten vom Jahr 1687 ed. WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt 1717. Breithaupt, Institutionum theolog. LL. II. 1693. Theses credendorum atque agendorum fundamentales. Hal. 1701. G. Anton, Collegium antitheticum. Freylinghausen, Grundlegung der Theologie u. s. w. 1704. Compendium oder kurzer Begriff der Theologie 1723. J. Lange, Oeconomia salutis u. s. w. 1730. Mehr polemisch sein: Antibarbarus orthodoxiae dogmat. hermeneut. 1709–11. Auch Spangenbergs Idea fidei fratrum 1782 mag in die Reihe dogmatischer Arbeiten, bei denen der praktisch erbauliche Zweck überwiegt, gestellt werden.
  42. Breithaupt Theol. mor. Hal. 1734. Joach. Lange Oeconomia salutis eaque moralis etc. 1734. Schon der Titel dieses Werkes gab als „moralische Heilsöconomie“ bei Löscher, Chladenius, G. Wernsdorf, Woken Anstoß; sie sahen darin Verdunkelung der Rechtfertigung durch die Heiligung. Spener’scher Einfluß zeigt sich auch in der Moraltheologie von Jäger, Tüb. 1714, Kortholt, Kopenh. 1717 und J. J. Rambach 1739, ja auch schon in Buddeus Inst. th. mor. 1711, dem Vorbilde Rambachs, J. G. Walchs u. A. Im Gebiet der praktischen Theologie ist Weismanni Rhetorica sacra 1689 und Breithaupti Institutio hermeneutico-homiletica etc. 1685, J. L. Hartmann Pastorale Evangelicum Norinb. 1678, Chr. Kortholt Pastor fidelis etc. 1696, G. Arnold, geistliche Gestalt eines evangelischen Lehrers nach dem Sinn und Exempel der Alten. 2 Thl. 1704. 1723; endlich Speners einfältige Erklärung der christlichen Lehre nach der Ordnung des kleinen Katechismus Luthers 1677 und seine tabulae catecheticae zu nennen. Ferner der Katechismus von Gesenius.
  43. Der Pietismus drang mit Recht auf Wiedergeburt und Heilsgewißheit und nahm die erstere in ernsterem Sinn als die Orthodoxie, die darin nur die göttliche Mittheilung der Kraft zu glauben sah, ja schon in der Kindertaufe sie als vollzogen annahm (s. o. S. 578). Aber der Pietismus verlegte sie in das bewußte Leben dergestalt, daß er die objective Basis der zuvorkommenden christlichen Gnade, auf der allein das neue Leben sicher ruhen und fröhlich wachsen kann, aus dem Auge verlor, sowie den Sinn für die Unmittelbarkeit und reine Natürlichkeit; indem er aber dem Streben nach Heilsgewißheit wieder eine höhere Bedeutung gab, gerieth er immer mehr statt kindlichen tapferen schlichten Glaubens in krankhafte Selbstbespiegelung, in ein geistliches Reflexionsleben. Das stete sich Fragen aber: ob man den rechten Glauben, die Wiedergeburt, die Kindschaft habe (das auch in der reformirten Kirche dieser Zeit einreißt), veranlaßte eine innere Unsicherheit, ein Herumtasten nach unsichern, ja selbstgemachten Kriterien der Kindschaft, das auf unevangelische Abwege führen konnte. Erst der württembergische Pietismus hat sich mit klarem Bewußtsein wieder der gesunden evangelischen Weise zugewendet (vgl. Burk, die Lehre von der Rechtfertigung), indem er daran erinnert, daß nicht das Bewußtsein die Kindschaft bewirke, sondern daß das kindlich gläubige Gemüth seiner Zeit auch zum Bewußtsein seiner Gotteskindschaft gelange.
  44. Vgl. z. B. was Bengel betrifft, Osc. Wächter, Joh. Albr. Bengel, Lebensabriß, WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt Character, Briefe und Aussprüche, 1865. S. 361, wo Bengel von denen spricht, die wohl etwas Ernsthaftes, Strenges, Hartes haben, aber bei denen die rechte Tiefe der göttlichen Worte und Geheimnisse, die süße, sanfte, holde Art nicht da sei – S. 391 f. Darauf kommt es ihm an, daß man geraden Weges (actu directo) glaube, nicht aber immer mit Reflexionen über seinen Glauben sich aufhalte. Die Forderung der fides reflexa (des bewußten Glaubens) können manchen gerade irre und stutzig machen, der auf gutem Wege sei, ähnlich wie ein Kind, das zu gehen anfängt, wenn man es beschreiet und saget: fällst du nicht? eben darum fällt. Dagegen Leute von der Geistesart der Korinthier müsse man zu actus reflexi zu bringen suchen. Bengel ist auch in Geist und Sprache voll Leben, Munterkeit, Plastik, fern von allem Formalismus methodistischer Bekehrungsweise, S. 418. So hat er auch von den Mitteldingen gesagt: ich bin kein Freund davon, aber man hat es gar zu hoch gespannt. Eine natürliche Fröhlichkeit ist vergleichungsweise noch eher zu ertragen, als eine ebenso natürliche, aber viel beschwerlichere Traurigkeit. S. 422 f.
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