Sonntagmorgen auf der Stadmauer
[387] Sonntagmorgen auf der Stadtmauer. (Zu dem Bilde S. 365.) Seit der Küfermeister und Weinhändler Johann Röster, am Martinsthor, die Leitung seines blühenden Betriebs dem verheirateten Sohne übertragen hat, pflegt er um so eifriger die edle Gärtnerei. Seine Rosen und Dahlien, nicht minder seine Salat- und Kohlköpfe genießen unter befreundeten Kennern dasselbe berechtigte Ansehen wie seine Entscheidungen und Gründe im Rat des Städtchens. Und er selber behauptet, daß ihm über die schwierigsten Fragen des Stadtwohls die Erleuchtung gar oft erst im Umgange mit den stillen, dankbaren Pfleglingen komme, die er da oben – auf der Stadtmauer züchtet.
Denn der Garten des alten Herrn, hinter seinem Hause am Martinsthor, liegt mit all seinen Bäumen, Sträuchern, Ranken und Beeten auf der Stadtmauer, das heißt auf dem gassenbreiten Unterbau hinter den eigentlichen Ringmauern. Der Faßschuppen im Hof reicht nur eben mit seinem schindelgedeckten First bis zum Gartengeländer herauf. Aber das Haus selbst besteht eigentlich nur durch die Stadtmauer. In der Front, an der Martinsthorgasse, läßt sich das nicht so deutlich merken. Hier hinten an der Gartenseite sieht man aber um so besser, wie es mit seinen verschiedenen Teilen an und auf die Mauer, um sie herum, in sie hinein gebaut ist; selbst die deutsche Sprache hat nicht Vorwörter genug, um das innige Verhältnis erschöpfend zu schildern, in das so eine alte, brave, verwitterte, bemooste Stadtmauer außer Dienst allmählich zum Familiensitz ihrer Anwohner tritt.
Das ist ein wunderliches und schwer faßbares Ding für die Jugend einer „modernen“, binnen weniger Menschenalter aufgeschossenen Industriestadt. Aber von den „geschichtlichen“ Städten und Städtchen zumal am Rhein und in Süddeutschland haben sich noch gar viele ein Stück ihrer mittelalterlichen Wehr bewahrt und je nach Art und Lage des Ortes friedlichem Behagen dienstbar gemacht. In der uralten Rhein- und Weinstadt Bacharach und anderswo zieht sich über die Stadtmauer längs dem Strom ein gedeckter Laubengang, mit Thüren zum Oberstock der innen angebauten Häuser und einer hübschen offenen Nische gegenüber jeder Thür. In diesen Nischen sitzt dann die Familie am schönen Sommerabend beim Feiertrunk, „sieht den Strom hinab die bunten Schiffe gleiten“ und gedenkt der alten Zeit, die diese Mauern gründete. Dagegen von der Stadtmauer des Meisters Röster schweift der Blick stadteinwärts, über den eigenen Werkhof und andere Stätten seßhaften Bürgerfleißes, die heut am junihellen Sonntagsmorgen in beschaulicher Stille ruhen. Es ist eine angenehme und nachdenksame Aussicht für den alten Herrn, der hier in ehrenvoller Muße die Früchte eines langen Arbeitslebens genießt. Und wie er nun eben mit der Morgenpfeife aus der Laube zu seinen Rosen tritt, beugt sich drunten aus dem Fenster sein blühendes Töchterlein vor. Anscheinend will sie nur mit dem Zeisig kosen, der im Bauer vor ihrem Fenster hängt, und es soll wohl nur Zufall sein, daß just in diesem Augenblick der schmucke Gehilfe und Teilhaber ihres Bruders den Hof betritt. Aber dem alten Herrn kommt unabweisbar deutlich die Erinnerung an einen andern Sommermorgen vor vierzig Jahren, wo ein anderes Haustöchterchen aus demselben Fenster einem schmucken Wanderburschen so eigen zunickte, daß er das Weiterwandern gründlichst vergaß – und jetzt selber als greiser Hausherr hier droben steht. Nun – sie passen zusammen, und einmal muß es ja sein – der alte Herr hat auch das von seinen Blumen gelernt, daß über den welken Trieben des Vorjahres immer ein neuer Lenz nach Licht und Liebe strebt. Mögen auch sie sich finden und einander zeitlebens im Treiben des Alltags den Sonntagsfrieden bewahren! Die alte Stadtmauer hält es aus.