Sennenleben in den Schweizeralpen

Textdaten
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Autor: Hermann Alexander Berlepsch
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Titel: Sennenleben in den Schweizeralpen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3 und 4, S. 43–46, 59–62
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Sennenleben in den Schweizeralpen.
Von H. A. Berlepsch.

Hirtenstand ist der Urstand der Schweiz, älter als die Urstände des Grütli-Bundes am Vierwaldstätter-See. Die Beschaffenheit des Bodens und seine klimatisch bedingten Erzeugnisse wiesen die ersten Bewohner des Landes auf Viehzucht hin, und die Beschäftigung, die den Aeltervätern im Gebirge Jahrhunderte hindurch Nahrung und Wohlstand, Segen und Freiheit gewährte, pflanzte sich als überkommenes Erbtheil von Generation auf Generation fort, – ein Element im Blute des Alpensohnes. Darum ist auch Alpenwirthschaft der ökonomische Schwerpunkt der Gebirgsschweiz, das Grund- und Stock-Capital, aus dem der Bauer seine beste Rente zieht, auf das er das Budget seiner Haushaltung, die Erweiterung seines Besitzes, die Hebung seiner materiellen Interessen basirt.

Da, wo der Flachländler auf persönlich eigenem Grund und Boden im Schweiße des Angesichtes seine Futterkräuter bauen, ernten, aufspeichern und in die Krippe streuen muß, um für’s ganze Jahr seinen Viehstand zu versorgen, – treibt der Alpensohn heiter und unbesorgt fünf schöne Monate lang seine Heerden zu einer fetten Mahlzeit, deren Tafel, von der schaffenden Natur ohne die Cultur der Menschenhand reichlich gedeckt, nicht ihm oder seinem Nachbar allein gehört, sondern die meist großes Gemeingut seines Heimathsdorfes ist. Darum kann der unscheinbare Mann im leinenen „Futterhemd“ Heerden halten, die manchem Rittergute eine Zierde sein könnten, – darum ist die Zeit seiner reichen Milch- und Jungvieh-Ernte droben „innert der Flüehne“ die freundliche verheißende Perspektive, die er den langen trüben Winter hindurch nicht aus dem Auge verliert, – darum sind ihm die Alpen nicht nur die natürlichen Bollwerke seiner Unabhängigkeit und Freiheit, sondern sie sind ihm auch eine Quelle seiner Wohlfahrt und Zufriedenheit. Der Tag der Alpfahrt ist das Auferstehungsfest im Wirthschaftskalender des Sennen, – der Sommeraufenthalt der Heerde und ihrer Hirten auf den „Staffeln“, gewissermaßen die Ferienzeit für eine Luftbadecur. Dieses moderne Nomadenleben eines civilisirten Volkes, seine Genüsse und Anschauungen, seine Entbehrungen und Gefahren dort droben in der Nachbarschaft des andauernden Firnschnees, mußten schon oft den wunderbaren Gedanken-Excursionen poetisch verirrter Schwärmer zum Thema für höchst unwahre Schilderungen dienen. Nachfolgende Zeilen wollen versuchen, ein treues Bild des Alpenlebens mit all seiner wirklichen und natürlichen Romantik zu geben, ohne darüber die nüchterne Kehrseite zu vergessen, – freilich oft auf die Gefahr hin, liebliche Träume der Ueberschwänglichkeits-Phantasie zu zerstören.

Alpen im weiteren, geographischen Sinne heißt, wie bekannt, das ganze höchste Gebirgsgebäude Europa’s, das Italien im Norden halbmondförmig umschließt; – im engeren und localen Sinne aber versteht der Schweizer, der Tyroler, der baierische und österreichische Gebirgsbewohner darunter jene von viertausend Fuß über dem Meeresspiegel bis zur Schneeregion liegenden, mit kräftigen, milchreichen Alpenpflanzen überwachsenen Weideplätze, auf welche er in der guten Jahreszeit sein Vieh zur „Sömmerung“ treibt. –

Nicht jeder Bergbewohner „fährt selbst auf Alp“; die Größe seiner Heerde entscheidet darüber. Wer vierundzwanzig Kühe und mehr besitzt, heißt ein „Sennten-Bauer“, weil diese Anzahl, besonders wenn ein Zuchtstier dabei ist, ein „Sennthum“ genannt wird. Wer weniger besitzt, hat nach dem Ausdruck des Appenzellers blos ein „Schüppeli-Bech“. Solch größere Besitzer oder Senntenbauern haben entweder eigene Alpen, oder sie nehmen ein Alp in Lehenzins, oder sie benutzen (und dies ist am meisten und fast allgemein der Fall) die Gemeinde-Alpen und treiben selbst in die Berge. Die kleineren Bauern, die blos wenig Kühe halten, gehen wohl persönlich in die Voralpen; aber wenn das Vieh während des Juli und August hinauf in die höheren Weiden getrieben wird, übergeben eine Anzahl von Nachbarn ihr Vieh einem Senn, mit dem sie dann seiner Zeit Abrechnung halten. Um nun die Auseinandersetzung bezüglich des Käse- und Butter-Ertrages der Interessenten festzustellen, gehen sämmtliche Betheiligte zweimal während der Dauer der Alpzeit an bestimmten Tagen hinauf „goh messe“. Das heißt: in Gegenwart sämmtlicher Nachbarn wird eine jede Kuh gemolken, ihre Milch gemessen und nach diesem Maßstabe der Bruchtheil des Einzelnen am gemeinschaftlichen Gewinn festgestellt. Der mit der Bewirthschaftung beauftragte Senn besorgt nun während der ganzen Dauer mit seinen Gehülfen alle Tagesgeschäfte und empfängt dafür außer freier Kost einen Lohn an baarem Geld oder in Naturalien. Um jedoch die Alpen im Stande zu erhalten und bei der größten Freiheit auf den Bergen dennoch eine allgemeine Ordnung zu handhaben, der Jeder sich unterwerfen muß, wählen alle Alpenbesitzer oder Berechtigten einen „Alpmeister“. Er ist der primus inter pares, ein Stück Gebirgspolizei, der „die Alp in Ehren halten, schützen und schirmen soll, als wie sein eigen Gut, – der Weg und Steg machen und Acht haben soll, daß Niemand im „Birg heue“ bis nach St. Jacobs Tag, der die Alpengenossen anhalte, jährlich einen Tag die Alp zu säubern und zu steinen“ und Aehnliches mehr. Also schreibt das „Alpbüchli“ vor, eine naive und ohne spitzfindige Redaction von den Bauern selbst in der „Alpgemeinde“ gegebene Gesetzsammlung, [44] die alljährlich einmal verlesen und entweder bestätiget oder je nach Bedürfniß erweitert und abgeändert wird.

Kommt nun der langersehnte Tag der Alpfahrt, der je nach dem Jahrgang und den klimatischen Eigenthümlichkeiten jeder Thalschaft in die Mitte oder gegen das Ende des Mai fällt,

„Wenn der Kukuk ruft, wenn erwachen die Lieder,
Wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu,
Wenn die Brünnlein fließen im lieblichen Mai!“

Wie der Hirt in Schiller’s Wilhelm Tell singt, dann schmücken sich die Sennen und Alle, welche mit in die Berge ziehen, festlich. Die Schwester heftet dem Bruder, „’s Maiteli“ ihrem „Buob“ Blumensträuße mit Flittergold verbrämt und Kränze von jungem Laub oder Buchsbaum auf den Hut, bunte Bänder flattern und winken, und das blendend weiße, hoch über die muskulösen Arme hinaufgewickelte Linnenhemd gibt einen guten Farbeneffect mit der scharlachrothen Tuchweste und den brennendgelben ledernen Kniehosen. So ist’s Brauch bei den fröhlichen Appenzellern und im Toggenburg, ähnlich auch bei den heiteren Bewohnern des Entlebuchs und überall, wo das auch in die stillen Gebirgsthäler eindringende Nivellirungs- und Verflachungsbestreben unserer Tage nicht jede Spur urwüchsiger Selbstständigkeit in des Volkes Thun und Denken, Kleidung und Sitte verwischt hat. Die Kühe sind gestriegelt und wie „g’schlecket“, daß sie im goldigen Sonnenschein glänzen und kein Wassertropfen auf dem glatten Haare haften würde. Mit übermüthigem Jauchzen und „Zauren“, die einen wahrhaft unverwüstlichen Humor bekunden, eröffnet der „Zusenn“, das weiß gescheuerte „Melcheimerli“ an der Schulter, den Zug. Ihm folgen die schönsten und größten Kühe mit den fußhohen, messingblechenen Glocken, „Trychlen“ im Volksmunde genannt. Diese hängen an breiten schwarzen, mit Figuren ausgeschnittenen und farbig ausgenähten ledernen Riemen, sind oberhalb am Henkel breit und bauchig, oft fast einen Fuß im Durchmesser weit, laufen nach unten schmaler zusammen und verursachen einen weithin hörbaren, trommelähnlich allarmirenden, heillosen und doch nicht unharmonischen Lärm. Man legt diese Schellen den Kühen nur für die Dauer an, während welcher der Zug durch die Dörfer geht, um Pracht damit zu treiben und alles Volk herbeizulocken. Ist dieser Zweck erreicht, dann wird das schwere Spectakel-Instrument den Kühen wieder von dem Hals genommen, weil erfahrungsgemäß das lange Tragen derselben den Lungen der Thiere schadet.

Sennhütte auf der Schweizer Alp.

Das ist dann ein völliger Aufstand in solch einem Alpendorfe, wenn der Zug durchkommt; Alt und Jung eilt herbei, um des „Jöcka–n–Ueli’s“ (Jakob Ulrichs) oder „Franz–Antoni–Lismer–Seppelis“ schöne „Chüena“ (Kühe) die Revüe passiren zu lassen und mit Kennermiene deren Bau und „G’schlachtheit“ zu prüfen. Denn der Bergbauer hat seine Kuh-Aesthetik, die mit den feinsten Nüancirungen ungemein „heikel“ und wählerisch in Farbe, Stellung der Füße, Hörnern und hundert anderen Eigenschaften distinguirt. Blökend und springend, gleich als ob sie es wisse, daß es hinaufgehe zu den gewürzigen, nahrhaften Alpweiden, folgt nun, in lange Reihe aufgelöst, die ganze Heerde, – unter ihnen brummend und trotzig der Großherr des Stall-Serails, der „Muni“, heute Gegenstand des öffentlichen Spottes, ein gefeierter Pantoffelheld; denn der Volkswitz bindet altherkömmlich diesem „Senntenpfaar“ (d. h. Zuchtstier) den Melkstuhl, mit Blumen geschmückt, zwischen seine Stirngabel. Neben dem Zuge, ebenfalls nach Möglichkeit im Staat, geht der „Gaumer“ und der „Handbub“, den Zusenn mit Jauchzen und Jodeln secundirend. Den Schluß bildet das Saumroß mit den Käserei-Geräthschaften und der Heerden-Besitzer, mit triumphirender Miene und unverkennbarem Selbstbewußtsein.

[45] So geht’s hinauf, heidi! juhu! immer höher hinauf,

In die Berge hinein, in das liebe Land,
In der Berge dunkelschattige Wand!
In die Berge hinein, in die schwarze Schlucht,
Wo der Waldbach toset in wilder Flucht!
Hinauf zu der Matten warm duftigem Grün,
Wo die rothen Alpenrosen blühn!

so ruft Carl Morell, der fröhliche Alpensänger, begeistert aus.

Das ist die freundliche Seite eines Alpfahrt-Bildes. Es gibt aber auch Heerden-Expeditionen, namentlich im Hochgebirge, bei denen es nicht nur mühseliger Momente in Hülle und Fülle gibt, sondern bei denen das Leben der Heerde wie der Hirten auf’s Spiel gesetzt werden muß. Dies ist vornehmlich dann der Fall, wenn große Firnfelder oder schrundige, durch zahlreiche Querspalten zerrissene Gletscher zu überschreiten sind, um zu den in stiller, verborgener Einöde der Eiswüsten gelegenen Alpweiden zu gelangen. Da ist’s denn in der Regel der Fall, daß, ausschließlich zu diesem Zweck, am Tage vor der Auf- und Abfahrt des Viehes mit Hülfe der Aexte und durch improvisirte Breterbrücken ein grober Weg erstellt wird. Durch Instinct geleitet, sträubt sich dann die Heerde, das fremde, unheimliche Element, den glatten glasigen Eisboden, zu betreten, und mit Stricken muß in der Regel die Widerspenstigkeit überwunden werden. Dies ist z. B. am Mauvais pas auf dem Mer de glace in Chamouny-Thal der Fall. – Oder es kommt vor, daß die Sennen, um einen näheren Weg zu nehmen, über jäh absinkende Schneefelder hinab müssen. Dann werden abenteuerliche Rutschpartieen ausgeführt; zwei Alpenknechte packen je eine Kuh am Schwanz und bei den Hörnern und suchen so das Thier zum Gleiten zu bringen, worauf sie dann pfeilschnell mit Locomotiven-Geschwindigkeit über den Abhang hinabjagen. Ja, es gibt sogar Alpen, zu denen das Vieh vor noch nicht gar langer Zeit an Seilen über vertikale Felsenwände hinabgelassen wurde.

Schmucklos, einfach, wie ein Wurf aus freier Hand, traulich und einladend, wie ein herziger Gruß des Willkommens auf den Matten, liegt das schützende Dach der stillen Alpenhütte da. Der ganze Bau ist meist aus Holz zusammengefügt, ganz Blockhausconstruction, von der vieljährigen Wirkung der Sonnenstrahlen tief kastanienbraun gebrannt; nur der mannshohe Unterbau ist grobes Steingefüge, oft Mauerwerk wie aus vorculturlichen Zeiten. Ueber dem einstöckigen und kunstlosen Erdgeschoß, das seiner naiven ungesuchten Natürlichkeit halber ganz mit der in ihrer Einfachheit majestätischen und erhabenen Gebirgswelt harmonirt, ruht das flache silbergrau glänzende Schindeldach; es ist mit schweren Steinen belastet, damit der wilde Föhn, des Aelplers „ältester Landsmann“, wenn er aus Süden einherbraust und, über die Felsenklippen hernieder stürzend, sich in die Bergmulden einbohrt, die Friedenshütte unangetastet lasse. – Dies also ist des Sennen und seiner Gehülfen Asyl während der Sommermonate. In den Alpen, wo gute Ordnung herrscht und für das Vieh sorgliche Einrichtungen getroffen sind, liegen nahe bei der Sennhütte Ställe oder Gaden, wo die Heerde während des heißen Mittags und der frostigen Nächte oder beim Unwetter gesichert steht. Nicht überall hat die praktische Vernunft diese Nothwendigkeit erkannt und ihr entsprochen; es gibt noch außerordentlich viele Alpen, auf denen das Vieh in Wind und Wetter, bei Hitze und Kälte im Freien verbleiben muß; – die angestammte Lässigkeit der Thalleute thürmt unüberwindbare Hindernisse gegen jeden rationellen Fortschritt auf. Da, wo es thunlich, wird die Sennhütte an einen Felsenklotz gebaut oder sogar zum Theil unter denselben hineingeschoben, um im Fond einen recht kühlen Platz für den Milchkeller zu gewinnen. Rinnt nun gar eisigkaltes, von den Schneemagazinen abgeschmolzenes Wasser in der Nähe, so leitet es der Aelpler gern durch diesen Raum, um die gesäuerte Luft abzuleiten und dagegen frische, dem Wasser entströmende Lufttheilchen seinem Milchgemache zuzuführen. Das Innere einer jeden Sennhütte ist eine nüchterne, prosaische Demonstration gegen allen Daphnis- und Chloe-Schwindel, eine kräftig corrigirende Strahldouche auf jedes durch sublime arkadische Schäfer-Phantasieen erhitzte Gehirn. Reinlichkeit und Accuratesse sind allenthalben nichts weniger als hervorragende Attribute viehzüchtender Völker, und der Schweizer Aelpler bestrebt sich durchaus nicht, hierin als Ausnahme zu erscheinen, wie der Vers im Appenzeller Ruggüßler (einem landeseigenthümlichen Hirtenliede in holprigen Reimen, aber mit einer um so angenehmeren, weicheren Weise, die zwischen den Worten aus dem Gaumen bisweilen üppig spielt) lachenden Mundes mit den Worten bekennt:

„Mi Schätzli isch e Höffertli, [1]
ond het e bochsigs Löffeli, [2]
e bochsigs Löffeli ohn’ en Stil;
ond schmotzig Senna geds gad vil.“ [3]

Denn da droben auf der Alp ist der leuchtende, farbenheitere Festtagsanzug, der das Auge bei der Auffahrt so anregend ergötzte, verschwunden; eine weite, derbleinene Hose, die in allen Schattirungen der Kuhstallbronze spielt und ein ditto Futterhemd (d. h. blousenähnliche Jacke ohne Schlitz auf der Brust) bilden mit den Holzschuhen und dem enganliegenden Lederkäppchen die ganze Bekleidung. Dieser entspricht nun auch völlig das Innere der Sennhütte. Die Entree führt sogleich in die centralisirten Gemächer; da ist nach altgermanischer Sitte Wohnzimmer und Küche, Speisesaal und Boudoir zu einem Gesammt-Appartement vereiniget, und man kann im buchstäblichsten Sinne des Wortes am „gastlichen Heerde“ weilen. Letzterer und das über ihm aufgehängte große kupferne „Milchkessi“ nehmen den meisten Raum ein und bekunden dadurch ihre hohe Bedeutsamkeit. Hier ist die Stelle, wo der chemische Scheidungsproceß vorgenommen wird, der die erste konsistente Grundlage zu den delicaten „Schweizerkäsen“ legt. Es ist aber kein Heerd, wie man ihn allenfalls drunten im Flachlande beim behäbigen Bauer oder in der noch altmodisch eingerichteten Küche des Kleinstädtler-Bürgers antrifft, – o bewahre! solche Weitläufigkeiten würden dem Sennen als Luxus gelten. Ein schwarzes verkohltes Loch im Winkel mit Steinen eingefaßt, ohne Kamin oder irgendwelche schlotähnliche Einrichtung, daneben ein senkrechtstehender, oben und unten eingezapfter und deshalb drehbarer Baum mit langem eisernen Arm (der s. g. Turner), an den der Milchkessel gehangen wird, – dies ist die ganze culinarische Einrichtung. Der Rauch mag sehen, wo er einen Ausweg findet, – es steht ihm frei, durch Ritzen und Spalten unterm Dach oder zur Thür hinauszuspazieren; darum ist auch das Innere jeder Sennhütte ziemlich angeraucht. Die feine, dünne, weniger von Stoff-Atomen gesättigte Alpenluft consumirt aber die aus dem Holze sich entwickelnden Dämpfe so auffallend rasch, daß letztere nicht einmal die Respirationsorgane wesentlich belästigen. Schaut man sich nach den weiteren Comforts um, so bestehen dieselben höchstens in einem Klapptisch, der in Angeln an der Wand befestiget ist und der Raumersparniß halber nach dem Gebrauch an die Wand zurückgelegt wird, – ferner vielleicht in einer Bank oder, was dieselben Dienste leistet, dem Hackklotz – und schließlich in der mittelst einer mit Wildheu gestopften Matratze, vulgo Laubsack, ausgerüsteten Schlafstätte, der ungestörten Heimath einer Legion von alpinen Springinsfelden. Alles Uebrige, was drinnen noch liegt und steht, ist Handgeräthe des Sennen zur Darstellung der Milchproducte.

In jeder einigermaßen großen Alpwirthschaft der östlichen Schweiz (also Graubündens, Glarus, des St. Galler Oberlandes) und im Wallis hausen gewöhnlich drei Aelpler und ein Knabe. Weiber sind in der Schweiz nie auf den Alpen (wie dies im Tyrol und baierschen Oberland, – die „Almerin“ – der Fall ist); nur in einigen Walliser Seitenthälern kommt es vor, daß die Frauen da droben wirthschaften. Major domus ist der Senn; entweder selbst Heerdenbesitzer oder Beauftragter einer Nachbarschaft, führt er das Regiment, besorgt die Käserei sammt deren Magazine und führt das Rechnungswesen. Sein Beistand und Handlanger ist der „Sennbub, Handbub, Schorrbueb“, im Wallis der „Pato“ genannt; er hat die Gefäße zu reinigen und jede Beihülfe zu leisten, deren der Senn bedarf, ist aber nicht jederzeit blos ein Knabe von 14 oder 15 Jahren, sondern es gibt Buben, die 30 und mehr Jahre alt sind. Die Vermittelungsperson zwischen Berg und Thal, der Käsemercurius und Heimathstelegraph ist der „Zusenn“, welcher alle Alpenproducte hinab und Holz sammt Victualien herauf zu schaffen hat; der Walliser Patois nennt ihn bezeichnend „Lamieiy (l’ami)“. Der eigentliche Hirt endlich ist der „Chüener, Gaumer oder Rinderer“, im Wallis „Vigly“ (vigilantia, die Wachsamkeit); seine ausschließliche Obliegenheit ist’s, das „Senntem“ auszutreiben und immer zusammen zu halten. An sicheren Orten, wo kein Vieh stürzen und kein Raubthier der Heerde schaden kann, liegt er bei gutem Wetter halbe Tage lang am Boden, schaut in die herrliche Landschaft hinaus, jodelt nach Herzenslust in die Thäler hinab und ist selig im träumerischen Nichtsthun. Gilt’s aber das Vieh an [46] steiler Alp zu hüten, dann muß er am schwindelnden Abgrunde gehen, zu äußerst, wohin das weidende Thier sich nicht getraut, – und auf Schritt und Tritt geht der Tod dicht neben ihm. Beim Sturm und Hochgewitter, im strömenden Regen und zu jeder Tageszeit muß er seinen lebensgefährlichen Beruf erfüllen, und nicht selten kommt’s, daß er tagelang in durchnäßten Kleidern verbleiben muß. Dies ist die Kehrseite des so reizend geschilderten Hirtenlebens. Aber auch der Senn bekommt sein Theil davon, wenn’s wochenlang regnet, Nebel wie böse Geister des Gebirges sich grau und unheimlich um die Hütte lagern, das nasse Holz nicht brennen will und Wind und eisiger Luftzug durch die Hütte fegen, daß die Glieder erstarren, – oder wenn’s gar im Juli schneit und dicke Flocken wirft, fußhoch, daß das Vieh kein Hälmlein Futter findet, vor Hunger brüllt und tagelang keine Milch gibt. Da begegnet’s schon, daß der Senn weit, weit in’s Thal hinab zurückkehren muß mit seiner Heerde, oder daß er mit unsäglicher Mühe Heu von der Heimath in die Berge herauftragen und dem sparsam geernteten Winterfutter Abbruch thun muß.

[59] Des Aelplers Tagesordnung ist höchst einförmig, Sonn- und Wochentags die gleiche; kein Glockenklang läutet die Sabbathruhe ein, kein schmuckes Kleid bezeichnet den Feiertag, kein „gueti chüeli Wi, e–n gueti Fründ daby“ netzt am Wirthstisch den durstigen Gaumen zum „Kärtelen“. Wie die Sonne die höchsten Schneegipfel der Eisberge röthet, während die Thäler drunten noch tief im Morgenblau dämmernd dampfen, erhebt sich der Senn von seinem harten Heulager und melkt, während der Handbub Feuer anzündet. Die gewonnene Milch wird sogleich gekäset, wo nämlich fette oder feiste Käse gemacht werden, wie in den Kantonen Bern, Schwyz, Uri, Freiburg etc. Ist dann die im großen Kessel erhitzte Milch geschieden in „Käsbulderen“ und Schotte oder Molken, sind mit letzterer die Geräthschaften wieder gesäubert und das Vieh hinausgelassen, dann wird „z Morget geessen“. Fernere Bereitung der Käse, oder da wo „Anken und Buureschmalz“ (Butter) dargestellt werden, wie in den Appenzeller und St. Galler Alpen, überhaupt häusliche Arbeiten, füllen den Tag reichlich aus. Ist’s Abend geworden, dann lockt der Hirt oder der Senn mit dem „Ruggüßler“ oder „Kuhreihen“ die Thiere zur Hütte, entleert die strotzenden Euter von der gelblich-fetten, ganz rahm-ähnlichen Milch, und Käsen, Essen und Reinigen der Geräthschaften erfolgt wie am Morgen. Währenddem, bei einbrechender Nacht, tritt der Senn in den katholischen Kantonen hinaus vor seine Hütte und singt mit lauter Stimme durch einen großen hölzernen Milchtrichter (die Bolle genannt) in der Choralmelodie der Präfation ein Gebet, meist das Evangelium Johannis und den engelischen Gruß ab. Die anderen Hirten im Gebirge und die im Freien übernachtenden Wildheuer oder Wurzelgräber, die es hören, knieen fromm nieder und beten ein Paternoster und Avemaria dabei. Dieser späte Ruf ersetzt in den stillen, einsamen Alpen die Abendglocke, welche in den Thälern zum Dankgebet für die Segnungen des verlebten Tages einladet, und dient zugleich den von der Nacht überraschten, vielleicht verirrten Wanderern als gastfreundliche Einladung. Ist Alles nun beendet, dann geht’s zur Ruhe auf’s Wildheu unter die „Schnetzli-Decke“, und ein kräftiger, tiefer Schlaf stärkt die ermatteten Glieder.

Kein Senn, welcher einen Abendsegen spricht, vergißt das „liebe Vech“ mit einzuschließen; denn dem Gebirgsbewohner ist sein Vieh Alles, der höchste Inbegriff seiner irdischen Sorgen. Ihm widmet er oft mehr Pflege und Aufmerksamkeit, als sich selbst oder seiner Familie. Ein Appenzeller Senn, der gefragt wurde, wie viel Vieh er besitze, erwiderte: „Zwanzig Chüene, Gott b’hüet’s!“ – „„Und wie viel Kinder habt Ihr?““ – „Ach! vier dere Ohfläth (Unflath), Herr!“ – war die Antwort.

Der Kuhreihen, dieser weltberühmt gewordene Hirtengesang, [60] der einst in Frankreich bei Todesstrafe verboten wurde, weil bei seinen Klängen die Soldaten der Schweizerregimenter, vom unendlichsten Heimweh befallen, massenweise desertirten und den Bergen zueilten, – der wirkliche echte „Chüereiha“ scheint nur in den Berner und Appenzeller Alpen bestanden zu haben; vollständig hört man ihn jetzt wenig mehr. Er ist, wie schon gesagt, das Eintreibelied, welches der Kuhhirt unter der Stallthüre singt und durch diese dem Vieh bekannten Töne dasselbe herbeilockt. Um sie folgsamer zu machen, gibt er ihnen aus dem „Läcktäschli“ ein wenig Salz. Der Text zum Appenzeller Kuhreihen lautet: „Wönd–d–er iha, Loba? (Kühe) Alsama mit Nama, die alta, die junga, alsama Loba, Loba, Lo – – – ba. Chönd (Kommet) alesama, alsama, Loba, Loba. Wenn–i–em Vech ha pfeffa (habe gepfiffen), ha pfeffa, ha pfeffa, so chönd alsama zuha schlicha, – schlicha, wol zuha, da zuha. Trib iha alsama, wol juha, bas zuha. Höpsch sönds ond frei, holdfälig dazue. Loba, Lo – – ba. Wääs wohl, wenn – er’s Singa vergod: wenn e Wiega i – der Stoba stod, wenn de Ma (Mann) mit Füsta dre schlod (Fäusten drein schlägt) ond der Loft (Wind) zue ala Löchera inablost. Loba, Loba, Lo – – ba! Trib iha, alsama, die Hinked, die Stinked, die B’bletzet, die G’schegget, die G’flecket, die B’blässet; die Schwanzert, Tanzert, Glinzeri, Blinzeri, d’Lehneri, d’Fehneri, d’Schmalzeri, d’Hasleri, s’Halböhrli, s’Möhrli, die erst’ Gähl ond die Alt, der Großbuch ond die Ruch; d’Langbeneri, d’Haglehneri, – trib iha, wol zuha, da zuha. Lo – – ba. Sit daß i g’wibet ha (seit ich geheirathet habe), ha – n – i ke Brod meh g’ha, sit daß i g’wibet ha, ha – n – i ke Glöck me g’ha, – Lo – – ba. – Wenn’s assa wohl god (wenn’s also wohl geht) ond niena still stod (und nirgends still steht), so iß jo g’rotha, Loba, Lo – – ba! ’s iß kena Lüta bas, as ösera Chüeha; si trinkid os – em Bach, ond mögid trüeha“ (es geht keinen Leuten besser als unseren Kühen, sie trinken aus dem Bach und werden dabei fetter). – So wenig poetisch das Ganze ist, ebenso wenig läßt sich die darin waltende Gemüthlichkeit leugnen, wenn der Hirt die Kühe fragt, ob sie herein wollen. –

Sennbub.   Senn im Festkleid bei der Auffahrt.   Gaumer oder Kuhhirt.

Der Eindruck, den solche Küher-Gesänge auf das Alpenvieh machen, ist unauslöschlich. Denn wenn Thiere von Alpenzucht aus dem Geburtslande entfernt werden und von ungefähr diesen Gesang hören, so scheinen alle Bilder ihres ehemaligen Zustandes plötzlich in ihrem Gehirn lebendig zu werden und eine Art Heimweh hervorzurufen. Sie werfen alsdann den Schwanz in die Höhe, schlagen mit den Füßen nach allen Seiten aus, fangen an zu laufen, durchbrechen die Zäune und gebehrden sich rasend und wild. Ueberhaupt äußert das Alpenvieh zu Anfang des Sommers ein eigentliches Heimweh nach den Alpweiden und sucht aus wirklich innerem Naturtriebe das Hochgebirge. Was Corrodi in seinen unvergleichlich schönen „Alpenbriefen aus dem Appenzell“ (Alpina, Scheitlin und Zollikofer in St. Gallen) sagt, ist vollkommen wahr: „Die Alpenkühe haben Intelligenz. Wenn Du bergan gehst über die Weiden, und die schönen Thiere erheben den Kopf so klug und fragend nach Dir, dann meinst Du, Du müssest ihnen den Paß vorzeigen! – Das sind keine Kühe, wie sie im Land unten vor alle möglichen Fuhrwerke gespannt und abgekarrt werden, daß man an den Beckenknochen den Hut aufhängen könnte, – das sind Honoratioren, bewußtvoll, sich fühlend, nicht Vieh mehr, sondern Thier. Da ist Race, Schnitt, Charakter. Glaubst Du, ein Thalkühlein würde Empfindung zeigen, wenn sie die große Glocke getragen und man sie ihr wieder abnähme? Nein. Geh’ aber und frag’, wie die Leitkuh traurig wird und nicht mehr fressen mag, wenn sie ihrer Glocke beraubt wird – sieh’, wie stolz sie vorgeht – da ist Intelligenz“ u. s. w. – Die Leitkuh oder „Heerkuh“ ist jene, von welcher Kuoni der Hirt in Schiller’s Wilhelm Tell sagt:

„Wie schön der Kuh das Band zum Halse steht!
„Das weiß sie auch, daß sie den Reihen führt,
„Und nähm’ ich ihr’s, sie hörte auf zu fressen.“ –

[61] Es ist die schönste Kuh einer Sennerei; weil sie die Heerde auf der Weide stets anführt, hat sie eine Glocke am Halse, die Weidschelle genannt. Trifft es nun, daß zu einer Heerde durch Kauf eine Kuh kommt, die in ihrem früheren Engagement die Ehre hatte, Glockenkuh zu sein, und soll diese sich nun der Leitung einer anderen Heerkuh unterordnen, dann entsteht nicht selten zwischen Beiden ein Kampf auf Tod und Leben, – und zwar derart, daß die in Ruhestand versetzte Leitkuh ihre neue Vorgesetzte muthig und entschieden angreift. Darum nennt die Sennensprache eine solche die „Ringeri“. – Nicht minder muß man es zu verhüten suchen, daß die Zuchtstiere zweier Heerden einander begegnen, sonst entbrennt auch hier ein Kampf, der jedesmal mit Verlust endet. So z. B. in der Gemeinde Tamins (Graubündner Rheinthal), wo die Almend in zwei Theile getrennt ist und die dort weidenden Heerden äußerst selten einander ansichtig werden. Im Sommer 1856 trafen sich dieselben jedoch. Bei jeder Heerde war ein kräftiger Muni. Sobald die beiden gehörnten Souveraine einander ansichtig wurden, gingen sie unter wildem Gebrüll aufeinander los. Der Zweikampf begann, während beide Heerden lautlos zusahen, und endete damit, daß der eine Stier den anderen in einen tiefen Abgrund hinabstürzte. Aber vor der Wucht seinen Anlaufes konnte auch der Sieger sich nicht halten und stürzte dem Besiegten nach. Beide lagen zerschmettert in der Tiefe. Die herbeigeeilten Hirten wagten nicht dazwischen zu treten.

So wie die Alpenkühe, durch deren Schaaren der Alpen-Tourist gar häufig wandern muß, durch freudige Sprünge und liebkosende Zudringlichkeiten gegen ihnen bekannte oder unbekannte Menschen Gefühle der vertraulichsten Zuthunlichkeit unverkennbar ausdrücken, so zeigen sie außerordentlichen Widerwillen gegen Hunde. Sobald eine Alpenkuh einen fremden Hund erblickt (denn manche Sennen nehmen selbst starke Hunde mit auf Alp, z. B. im Kanton Unterwalden), stellt sie sich zur Gegenwehr, indem sie ihre Hörner als Angriffswaffe gebraucht, auf ihn zuläuft und ihn oft große Strecken verfolgt. Nicht selten kommt der Herr des Hundes dabei in Gefahr, wenn letzterer Schutz bei ihm sucht; die Kuh aber, weder Ansehen noch Stand der Person kennend, fährt fort, auf ihren Feind einzustürmen. Ist der Hund groß und hartnäckig, so vereinigen sich nicht selten mehrere Kühe, schließen einen Kreis um ihn und würden ihn unfehlbar tödten, wenn er nicht in der Flucht sein Heil suchte. Darum ist’s auch in den meisten Alpen streng verboten, Hunde mit hinauf zu bringen.

Wie eine gute Hausfrau stolz auf ihre glitzernde und blanke Küche, auf ihre gefüllten Linnenschränke und gute Ordnung im Hauswesen ist, so weiß sich der Aelpler etwas auf seine Käse. Der unglückliche Senn, welchem sie mißrathen, bleibt lange Gegenstand des Dorfgespöttes, und es gibt noch heutigen Tages Nachkommen von solchen, die den Uebernamen ihres Vaters oder gar des „Aehni“ (Großvaters) tragen müssen. Die Anerkennung, ein guter „Chäser“ zu sein, ist sogar (horribile dictu) von Einfluß bei Liebesverhältnissen. ’S Maiteli vermag’s nicht zu ertragen, wenn ihr Bub nicht für einen perfecten Sennen gilt, und manche „Brögglerin“ (d. h. Stolze) hat darum ihren Kiltgänger und Liebhaber schon verabschiedet, ungeachtet er wacker Batzen besaß. Es ist aber auch ganz erklärlich, wenn man in’s Auge faßt, welch’ bedeutender Handelsartikel der Käse für die Schweiz ist. jährlich werden für mehr als acht Millionen Franken Schweizerkäse in’s Ausland versandt, und der Gewinn von Milchproducten überhaupt, einschließlich des ungeheueren Consums in der Schweiz selbst, wird auf nahe an 100 Millionen Franken geschätzt. Die beliebtesten und gesuchtesten Sorten sind der großlöcherige, saftig-fette Emmenthaler und der noch etwas schärfere Greyerzer (fromage de Gruyère); beide Sorten werden in Laiben bis 120 Pfund Schwere gefertiget und jetzt in beinahe allen käseproducirenden Kantonen nachgeahmt. Fernere sehr geschätzte Käsesorten sind der Brienzer aus dem Berner Oberlande, dessen sich alle Sommerreisende gern erinnern, die am Gießbach oder in dem traulich gelegenen weißen Kreuz in Tracht übernachteten, dann der delicate weiche fette Urserenkäs, den man auf einer Gotthardsreise, besonders in Andermatt, vorgesetzt bekommt, der Strohkäse aus dem Val Lavizzara im Kanton Tessin, deshalb so genannt, weil er seiner Weichheit halber mit Stroh umwickelt versendet wird – der Tavetscher etc.

Wir kehren nochmals zum Aelpler zurück. Das geschäftige Einerlei, welches den Sennen in seiner sommerlichen Einsamkeit umfängt, wird in den größeren Alpen derjenigen Kantone, in denen ein frisches, lebensfröhliches Völklein wohnt, dennoch ein oder einige Mal unterbrochen; gewöhnlich gibt’s dann aber auch drastische Illustrationen zu dem alten Sprüchwort: „Keine Kirche, außer es steht ein Wirthshaus daneben.“ So auch hier an und auf den Alpenfesten. Wie es drunten im Thal jährlich einen Erinnerungstag gibt, an welchem des Ortes Kirche eingeweiht wurde, wie jedes Dorf in ganz Deutschland seine „Kirmse“ feiert, so gibt’s auch eine „Aelpler-Kilbe“. Das fromme Bedürfniß oder der hierarchische Glaubenseifer haben nämlich hier und da, tief drinnen im Gebirge, oft in abgelegener Felsenwildniß, Kapellchen erbaut, meist schmucklos und einfach, wie des Aelplers Hütte, in welchem allsommerlich ein Mal Gottesdienst gehalten wird. So ist’s in der Sennhütten-Colonie St. Martin im Kalfeuserthale, so auf der größten und schönsten Alp der Schweiz, dem Urnerboden am Klausenpaß, so im romantisch gelegenen Wildkirchli unter der Ebenalp in den Appenzeller Bergen, und an andern Orten. Da wallfahrtet denn das Volk zu hellen Haufen, namentlich die Weiber und Mädchen der droben wirthschaftenden Sennen, im bunten „Sonntigshäs“ (Sonntagskleid) hinauf, das Alpenröslein auf dem Hut. Der Geistliche, meist ein Kapuziner, hält Predigt und Messe, gibt der Alp oder auch dem Vieh seine Benediction, und damit ist dem Seelenheil für diesen Tag Genüge geleistet. Nun treten die irdischen und profanen Interessen in den Vordergrund, und da entwickelt sich denn in der Regel ein Volksfest, so kernig und urwüchsig, wie man es eben nur bei einem Volke erwarten darf, das in seinem Anschauen, Auffassen und Denken, in seinen Zuständen, Sitten und Gebräuchen innig verwachsen ist mit der erhabenen Gebirgswelt, welche es umgibt. Das ist ganz anders als da drunten im geradlinigen Flachland bei den zahmen, civilen, abgeschliffenen, vercultivirten Menschen, – etwa so ein Verhältniß wie ein Dürer’scher Holzschnitt gegenüber einem englischen Maschinen-Stahlstich. Hei! ist das ein reiches, farbiges, lebensheiteres Bild, solch’ eine „Alpstoberta“, solch’ ein Schwingfest und Steinstoßen! wie prägt sich da Selbstständigkeit, Kraft und Freiheit aus, wie schleudert da der Uebermuth seine leuchtendsten Funken empor, wie wirbelt und ringt und jauchzt und johlt da Alles durcheinander und scheint unergründlich und unverwüstlich in seinem Humor zu sein! Freilich fehlt’s nicht an Späßen, die, mit der Schrotsäge des Volkswitzes zugeschnitten, ebenso derb erwidert werden, als sie gegeben wurden; aber nie überschreiten sie jene Grenzlinie, jenseits welcher das Verwerfliche, Gemeine liegt. – Nach Inhalt, Form und Zweck weichen diese Aelplerfeste in den verschiedenen Alpengegenden wesentlich von einander ab.

Eine Appenzeller Alpstubete ist vorherrschend ein Sang- und Tanz-Vergnügen und entspricht ganz dem neckisch-jovialen Wesen dieses Volkes. Auf grüner ebener Matte ist irgend ein Emporium etablirt, auf dem ein Geiger steht; damit die sengenden Sonnenstrahlen ihn bei seiner ohnehin schweißtreibenden Kunst nicht allzusehr erhitzen, hat er an langer Stange einen großen rothbaumwollenen Familien-Regenschirm aufgespannt, in dessen Schatten er rastlos arbeitet. Ihn accompagnirt ein sitzender Hackbretspieler, der mit beiden Füßen obligate Pedalbegleitung trampelt, um des fehlenden Basses Grundgewalt zur Festhaltung der Tactes zu ersetzen. Um dieses improvisirte Orchester, dessen hüpfende und zuckende Melodieen-Wellen weithin hörbar erklingen, wogt und wirbelt die sinnenberauschte Tänzerschaar; jede kurze Pause wird ausgefüllt durch das fleißig credenzte Glas mit feurigem Oberländer oder gutem alten Rheinthaler Wein. Währenddem vergnügt sich eine andere Schaar rüstiger muskulöser Burschen mit „Steinstoßen“, oder die vom Tanze rastenden Mädchen singen ihre wunderbar schönen dreistimmigen Lieder, die erst durch die wiederklingende Resonanz der umliegenden Felsenwände jenen eigenthümlichen Schmelz erhalten, auf den sie so ganz berechnet zu sein scheinen. – Ganz anders erlustiget sich der Unterwaldner, der Emmenthaler, Entlebucher und Berner Oberländer Bergsohn; ihm sind gymnastische Spiele, die Probe körperlicher Stärke und Gewandtheit im Ringen und Schwingen das höchste Ideal alpiner geselliger Freuden. Es gibt Schwingtage in den verschiedenen Gauen, die so fest stehen wie irgend ein Heiligentag im Kalender, vererbt aus altersgrauen Zeiten. Aber es werden auch außerordentliche „Schwinget“ ausgeschrieben; solche Nachricht eilt dann, gleich einem Hochwachtfeuer, von einem Ende des Landes zum anderen. Die geübten Schwinger laben sich dann einige Wochen vorher an kräftiger, nahrhafter Kost, leben gemächlicher und bereiten sich auf den [62] Ehrentag vor. Ist nun der Tag erschienen, an welchem sie corporativ für ihrer Thalschaft Ansehen auftreten, z. B. die Entlebucher gegen die Emmenthaler, dann versammeln sich Alle an einem bezeichneten Ort, in einem Wirthshause, und trinken einander brüderlich in guten Treuen, sonder Haß und Erbitterung zu. Die spartanische Lustbarkeit beginnt mit fröhlichem Zuge zum Kampfplatz unter Anführung einer laut schmetternden Musikbande. Jeder mit seinem Gegner, Arm in Arm, folgt, und Volksmassen begleiten und schließen den Zug. Auf dem Platze angelangt, schließt sich ein weiter Kreis der Zuschauer. Eine gleiche Anzahl Kämpfer von beiden Theilen wird ausgewählt, je nach Uebereinkunft. Die Schwächeren von beiden Seiten machen den Anfang, und der Ordnung nach schließen die Stärkeren sich an. Der Anerkannteste der Schwinger ist immer oberster Befehlshaber und in verwickelten Fällen unparteiischer Rathgeber. Oft wird auch ein neutrales Kampfgericht durch Stimmenmehrheit erwählt. Jetzt tritt das erste Paar in des Cirkels Mitte, barfuß, die Hosen bis über die Hälfte der Schenkel aufgerollt, das Hemd am Halse geöffnet, ebenso die Hemdärmel weit zurückgeschürzt, den Haarwuchs des Kopfes mit einem Taschentuch umwunden. Ein Handschlag bekräftigt öffentlich, daß es einem Ringen in Freundschaft, nach alten Regeln, gelten solle. Nun fassen sie einander, und der Kampf beginnt. Die höchste Spannung, wer siegen werde, spricht sich auf dem Antlitz aller Zuschauer aus. Lange schwankt der Entscheid; endlich liegt der Eine überwunden am Boden, und lauter Beifallsruf belohnt den Gewinnenden. So folgen die übrigen Paare bis zum letzten. Die Seite, auf welcher die Wenigsten gefallen sind, namentlich wenn auch der letzte Sieger auf dieser Seite triumphirte, ist Herrin des Platzes und ihr Lob das Tagesgespräch viele Wochen hindurch. Ein freundschaftlicher Trunk schwemmt allen Unmuth hinweg, und nach friedlichem Abschied wandern die wackeren Kämpen wieder ihren Alphütten zu, um am Andenken zu zehren.

Noch eine andere Belustigung in den Berner Alpen ist das „Posternächteln“. Dies geschieht, wenn der Senn mit dem Vieh einen anderen „Staffel“ bezieht, oder wenn die Hirten die Alpen verlassen. Schon lange vorher sammeln sie Holz, das sie oft stundenweit vorn an den Rand eines hohen Felsen tragen, der das ganze Thal beherrscht; daselbst richten sie einen mächtigen Scheiterhaufen auf, zünden denselben bei anbrechender Nacht an und lassen endlich die glühenden Klötze von der Höhe hinabrollen, den Thalbewohnern ein köstliches Schauspiel zu bereiten.

So ist in wenig Zügen des Aelplers Freud’ und Leid. Herbstelet es dann endlich, d. h. stellen sich die Nachtfröste des Herbstes ein und zieht der Wald sein buntscheckiges Kleid allgemach an, dann zieht der Senn „ab Alp“. Die Poesie des Hirtenlebens ist für einmal wieder dahin, und im Andenken zehrt er in der tief eingeschneiten Winterhütte des Thales an den genossenen Freuden im Hoffen auf die Wiederkehr des Frühlings.



  1. Hochfahrendes Wesen.
  2. Buchsbaumener Löffel.
  3. Gibts grad viel.