Selinde
[88] Selinde.
Das schönste Kind zu ihren Zeiten,
Selinde, reich an Lieblichkeiten,
Schön, wenn ich also sagen mag,
Schön, wie das Morgenroth, und heiter, wie der Tag;
Sie weigert sich; der Maler ließ nicht nach;
Er bat, bis sie es ihm versprach,
Und schwur, sie recht getreu zu fassen.
Sie fragt, wie viel man ihm bezahlt?
Und hätt ich ja was fordern sollen,
So hätt ich Küsse fordern wollen.
So schön Selinde wirklich war,
So schön, und schöner nicht, stellt sie der Maler dar;
Das Bild war treu, und schön, bis zum Entzücken;
So reizend, daß es selbst der Maler hurtig küßt,
So bald sein Weib nicht um ihn ist.
Der Maler bringt sein göttliches Gesicht.
„Hier nehm er sein Gemälde wieder,
„Er irrt, mein Freund, das bin ich nicht.
„Wer hieß ihn so viel Schmeicheleyen,
„Und so viel Reiz auf meine Bildung streuen?
„Kurz, nehm er nur sein Bildniß hin;
[89] „Ich mag nicht schöner seyn, als ich in Wahrheit bin.
„Vielleicht wollt er die Venus malen:
„Von dieser laß er sich bezahlen.
Das schön ist, ohn es seyn zu wollen?
Wie viele kenn ich nicht, die wirklich häßlich sind,
Und die wir mit Gewalt für englisch halten sollen!
Der Maler nimmt sein Bild, und sagt kein einzig Wort,
Was wird er thun? Er wird es doch nicht wagen,
Und so ein schönes Kind verklagen?
Er klagt. Selinde muß sich stellen.
Die Väter werden doch ein gütig Urtheil fällen!
So sehr sie Unrecht hat, so edel ist ihr Wahn.
Hier kömmt sie schon, hier kömmt Selinde!
Wer hat mehr Anmuth noch gesehn?
Der ganze Rath erstaunt vor diesem schönen Kinde,
Und jeder Greis in dem Gerichte
Verliert die Runzeln vom Gesichte;
Man sah aufs Bild; doch jedesmal
Noch längre Zeit auf das Original;
O! sprach sie ganz beschämt, wie könnt ich dieses hoffen?
Er hat mich viel zu schön gemalt,
Und Schmeichler werden nicht bezahlt.
[90] Selinde, hub der Richter an,
Er hat nach seiner Pflicht gethan,
Abbittend sollt ihr ihn bezahlen.
Doch weil ihr von euch selbst nicht eingenommen seyd:
So geht nicht unbelohnt von diesem Richterplatze;
Zum Lohne der Bescheidenheit.
O weiser Mann, der dieses spricht!
Gerechter ist kein Spruch zu finden;
Du, du verdienst ein ewig Lobgedicht,
Selinde geht. Der Beyfall folgt ihr nach;
Man sprach von ihr gewiß, wenn man von Schönen sprach;
Je mehr sie zweifelte, ob sie so reizend wäre,
Um desto mehr erhielt sie Ehre.
Um desto mehr schätzt ihn die Welt.