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Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

Und die edle Fürstin möchte

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     alles Aufsehn gern vermeiden,

und in keiner Herberg’ schlafen,
     sondern nur bei Bürgersleuten.

Da, o Freude, blinkt’ ein Lichtchen
     ihnen durch die Nacht entgegen,

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und am hellen Erkerfenster

     schien sich etwas zu bewegen.
Gundchen war’s, des Schlossers2) Tochter,
     die vom frohen Kindtaufschmause
mit dem alten guten Vater

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     erst vor kurzem kam nach Hause.


Wunderlieblich war das Mädchen,
     Wangen roth wie junge Rosen,
ihre Stirne weiß und sammtig
     wie die Haut der Aprikosen,

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wie Vergißmeinnicht die Augen,

     schöngelockt die schwarzen Haare,
schlank ihr Wuchs wie junge Birken,
     und ihr Alter zwanzig Jahre.

Aus den Locken wand sie eben

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     die mit Gold durchwirkten Bänder,

lüpfte Busen, Hals und Nacken
     von dem Zwange der Gewänder.
Seitwärts in dem Sorgenstuhle
     saß ihr Vater, sich entkleidend

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und dabei verschmitzt die Augen

     an der Tochter Schönheit weidend.


[Ξ] 2)

Der Schlosser hieß Meister Mathesius, bewohnte das Haus, welches jetzt Nummer 108 ist.

Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_210.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)