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Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

„Gott, du hast mein Herz verstanden,

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     brachst zur Gnade mir die Bahn,

nahmst aus Angst und Sünd’ und Schanden
     gnädiglich mich wieder an.
Denn dein Sturmwind warf die Eiche
     also an die Felsenhöh’,

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daß ich nun durch ihre Zweige,

     Gott, zu dir zu beten geh’!“

Eine Eiche lag am Felsen,
     reichte völlig bis hinan,
und, o Wunder, den Gehölzen

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     hat der Sturm sonst nichts gethan.

„Sieh, mein Kind – sprach drob der Alte –
     siehe Gottes Vorsehung;
diesen Einen Baum im Walde
     brach der Sturm – er war genung!“ –

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Jeden Abend, wenn die Sonne

     in die Berge niedergeht, ·
steigt im Ordenskleid die Nonne
     auf den Felsen zum Gebet,
wirft sich vor dem Höchsten nieder:

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     „Gott, wie drückt die Schuld mich schwer!

Gott, mein Gott!“ und kehret wieder
     ruh’ger und getrösteter.

Und des Alten Auge thauet
     freudvoll, wenn sie wiederkehrt,

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wenn er keine Thränen schauet,

     keine Klagen fürder hört.
So vergingen zween Jahre,
     und mit jedem Abendroth,
betete dort oben Clare

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     reuevoll zum lieben Gott. –


Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_109.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)