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Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

Hoch im Mittag stand die Sonne,
     längst schon war der Alte wach,

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da erwachte auch die Nonne

     auf den Binsen allgemach:
„Süßer Traum! Die Leiden wälzen
     sich von meiner Brust hinweg!
Sprecht, Greis! Kennt ihr einen Felsen

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     himmelhoch und ohne Steg?“ –


Und verwundert spricht der Alte:
     „Solchen Felsen kenn’ ich wohl,
sieh, dort ragt er aus dem Walde!
     Aber sage, was das soll? –

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Ließ der Traum dir Gnade hoffen

     o so gieb der Hoffnung Raum,
doch erzähle mir jetzt offen
     und aufrichtig deinen Traum.“

Clara drauf: „Voll Angst und Reue

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     irrt’ ich durch den Wald, und schrie:

Gott im Himmel du, befreie
     mich von meiner Last und Müh!
Nimm mir ab mein schweres Leiden,
     nimm mir ab die Angst und Pein!

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Schluchzend rief ich’s, und von weiten

     nahte mir ein lichter Schein.

Näher kam’s heran gezogen
     über Haide, Sumpf und Moor,
viele tausend Engel flogen

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     aus dem Lichtgewölk hervor.

Einer drauf im weißen Kleide
     nahte mir, und fragte mich:
Wes durchirrst du Wald und Haide?
     Und was weinst du, Clara? Sprich! –

Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_106.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)