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Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

Denn der wackre Pförtner wachte

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     an der Pforte Tag und Nacht;

diesem hab’ ich – wie ich dachte,
     einen Schlaftrunk – beigebracht.“

„Saft aus silbernen Phiolen
     gab der Pilger mir, und sprach:

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„Gieb ihm das im Wein verstohlen;

     tiefer Schlaf erfolgt danach!“
Und ich thats. Der Pförtner dankte,
     als ich ihm den Becher bot,
trank ihn aus, und bebt’, und wankte,

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     sank zu Boden, und – war todt!“ –


„Jammernd stürzt’ ich auf die Leiche,
     und der Pilger sprang herbei:
„Hat’s gewirkt? – Entweich, entweiche!
     Liebste, bist nun vogelfrei;

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hast gemordet! Mir zu eigen

     gabst du dich durch diesen Mord;
mußt nun, mußt mit mit entweichen,
     rasch, Herzliebste, auf und fort!““

„Und ich stand, wie ohne Leben,

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     stierte auf die Leiche hin:

„Gift, Gift hast du mir gegeben?
     machtest mich zur Mörderin?
Unthier, fleuch aus diesen Wänden,
     fleuch aus diesem heil’gen Haus!“

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Und er zog mich bei den Händen

     zu der Pforte mit hinaus.“

Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_103.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)