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„Die Varianten der Kalevala“ sind nicht so zu verstehen, als ob sie bloss verschiedene Lesarten zu den Zeilen der gedruckten Kalevala enthielten. Sie sind die sämtlichen Originalquellen der rein epischen Teile der Kalevala, denn die den lyrischen und magischen Gesangstücken der Kalevala zu Grunde liegenden Handschriften werden später unter besonderen Namen erscheinen. Wie hieraus ersichtlich ist, muss eine wissenschaftliche Erforschung der epischen Bestandteile der Kalevala ausschliesslich auf diese sog. Varianten basiert werden, da dasjenige, was Lönnrot der epischen Einheit und einer besseren Wirkung halber durch Namenwechsel und Umstellung der Ereignisse verändert hat, nur als ein rein ästhetisches, ein sehr hohes Interesse haben kann.

Diese epischen Originalgedichte des Volkes werden in fünf Heften erscheinen. Aus Rücksicht auf die persönlichen Kenntnisse der Herausgeber, Prof. J. Krohn und Mag. A. Borenius, ist die Arbeit geographisch in zwei parallel laufende Serien geteilt worden, so dass letzterer die ihm durch mehrfache Reisen vertrauten Lieder der russisch-karelischen Bevölkerung in der Provinz Archangel und im nördlichen Teile der Provinz Olonetz ordnet, ersterer dagegen alles übrige, nämlich die im Grossfürstentum Finnland, Olonetz, Ingermanland und bei den Esthen gesungenen Lieder.

Vom ersten Hefte welche das Lied vom Sampo (die Schöpfung und der Raub des Sampo), das Schmieden des Himmels und den Singwettstreit zwischen Wäinämöinen und Joukahainen enthält, ist vorläufig die letztere Serie herausgekommen. In dieser erscheinen die ursprünglichen, einfacheren kürzeren Liederformen, aus denen die der ersteren Serie sich entwickelt und ineinander verwickelt haben. Da die letztgenannten, oft über je 500 Zeilen lang, noch nicht erschienen sind, so möge man ja nicht voreilig aus den erstgenannten die Schlussfolgerung ziehen, dass Lönnrot aus kleinen Mosaikstückchen die Kalevala zusammengewürfelt habe. Das finnische Volk, besonders die Archangelisten, haben ihm in der Verbindung und Verschmelzung verschiedener Gesänge dermassen vorgearbeitet, dass er lediglich als der letzte Rhapsode der finnischen Nationallieder angesehen werden kann.

Näheres über obengenannte Arbeit bietet das ihr angefügte deutsche Programm und eine französische Anzeige, wo auch der unerwartete Tod des Herausgebers Prof. J. Krohns angezeigt wird. Sein Anteil an der Arbeit ist dem Sohne desselben und Schreiber dieser Zeilen, Dr. K. Krohn, Dozent an der Universität Helsingfors, übertragen worden; mit diesem Wechsel ist zunächst ein bedeutender Zeitverlust in der Herausgabe verbunden.

Vielleicht wird schliesslich den deutschen Forschern nicht ungelegen sein, zu erfahren, dass ein finnisch-deutsches Wörterbuch von K. Erwast gleichzeitig mit den Kalevalavarianten erschienen und bei der finnischen Litteraturgesellschaft für 15 Fmk. (= 12 Rmk.) portofrei zu erhalten ist.

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_243.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)