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ist in dem 4. Kapitel des letzten, 44. Buches der Philippischen Geschichte enthalten, welche Junianus Justinus nach dem aus dem Zeitalter des Kaisers Augustus stammenden Werke von Trogus Pompejus im 2. bis 3. Jahrhundert geschrieben hat. In dem letzten Kapitel wird Spanien beschrieben, jenes Land, welches an der äussersten westlichen Grenze der Welt, an den Herkulessäulen, lag. Der Verfasser erwähnt die alten Fabeln, welche von Titanen, Herkules, Geryon erzählen, und schildert, wie Habis, der König von Gallaecien, zur Herrschaft kam und sein Reich regierte. Da diese Erzählung[1] für die Schicksalskindgeschichte nicht unwichtig erscheint, lasse ich dieselbe hier ungekürzt in der Übersetzung von Chr. Schwarz folgen:

Die Wälder der Tartesier, in welchen nach der Sage die Titanen gegen die Götter Krieg geführt haben, bewohnten die Cuneten, deren ältester König Gargoris zuerst den Gebrauch Honig zu sammeln erfand. Als diesem durch die Unzucht seiner Tochter ein Enkel zur Welt kam, wollte er aus Scham über die Schandtat auf mancherlei Weise dem Kleinen das Leben nehmen lassen; aber durch alle Begegnisse hindurch von einem besonderen Geschick erhalten, gelangte dieser endlich durch Mitleid mit so vielen Gefahren auf den Thron.

Zu allererst, als er ihn auszusetzen befohlen und nach einigen Tagen hingeschickt hatte, den Leichnam des Ausgesetzten zu holen, fand man ihn von verschiedenen[WS 1] wilden Tieren gesäugt. Nachdem er darauf wieder nach Hause gebracht war, lässt er ihn auf einen Fusssteig hinwerfen, durch welchen das Vieh zu gehen pflegte; ein wahrer Wüterich, der den Enkel lieber zertreten, als durch einfachen Tod umbringen lassen wollte. Da er auch hier unverletzt blieb und an Nahrungsmitteln keinen Mangel hatte, warf er ihn zuerst hungrigen und durch vieltägige Entziehung der Nahrung gequälten Hunden, bald sogar Schweinen vor. Und da er so nicht nur nicht beschädigt, sondern sogar von einigen gesäugt wurde, liess er ihn endlich in das Meer werfen.

Hierauf wird er durch eine augenscheinliche Fügung der Gottheit mitten in der tobenden Brandung und dem wogenden Gewässer, als würde er von einem Schiffe, nicht von der Flut getragen, von einer sanften Welle an das Ufer gesetzt; und nicht lange nachher war eine Hirschkuh da, welche dem Kleinen die Brust hinhielt. Daher erhielt der Knabe zuletzt, weil er seiner Amme beigestellt war, eine ausserordentliche Behendigkeit; und unter den Herden der Hirsche durchstreifte er lange Zeit Berge und Waldtriften, ohne ihnen an Schnelligkeit nachzustehen.

Endlich wurde er in einer Schlinge gefangen und dem Könige zum Geschenke gegeben. Da wurde er teils an der Ähnlichkeit der Gesichtszüge, teils an den Körpermalen, welche dem Kleinen eingebrannt worden waren, als der Enkel erkannt. Aus Verwunderung sodann über so viele Begegnisse und Gefahren wird er von demselben zum Thronfolger bestimmt. Es wurde ihm der Name Habis gegeben; und als er die Herrschaft erhielt, erschien er in einer solchen Grösse, dass man sah, er sei nicht umsonst durch der Götter Hoheit so vielen Gefahren entrissen worden; denn das rohe Volk band er an Gesetze und lehrte zuerst die Stiere durch den Pflug zähmen und durch das Pflügen Früchte gewinnen; und

  1. Schon Jacob Grimm weist in einer hsl. Bemerkung über spanische Märchen (im Handexemplar der Märchen 3, 309. 1856) auf diese Geschichte hin: ‘Iberisches märchen von Habis (abea, gebüsch) Justinus 44, 4’ – (J. B.).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ververschiedenen
Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 29. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1919, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_29_028.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)