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Die dritte, westeuropäische Gruppe taucht zuerst im 13. Jahrhundert in Deutschland und Frankreich auf, hat auch einen ausgesprochen christlichen Charakter, lenkt jedoch das Interesse hauptsächlich auf die Person des Kindes selbst, indem sie die Geschichte auf bestimmte historische Persönlichkeiten anwendet. Zwei lateinische Quellen (das Pantheon des Gottfried von Viterbo und einige Handschriften der Gesta Romanorum) erzählen vom deutschen Kaiser Heinrich III., zwei altfranzösische Texte von dem byzantinischen Kaiser Konstantin (vgl. P. Ernst, Altfranzösische Novellen 1909 I, 1). Dabei ist die Heinrichsgeschichte eine Legende von der Gründung des Klosters Hirschau im Schwarzwald, die Konstantingeschichte eine Legende von der Entstehung des Namens Konstantinopel (und von der Verbreitung des Christentums). Die beiden Legenden zeigen eine sonderbare Kreuzung von Motiven der beiden anderen Gruppen: die Prophezeiung geschieht, während die Frau in Geburtswehen liegt, also in der Weise der Markianoslegende. Der Mordanschlag gegen den Säugling wird jedoch in der Weise, wie er in den späteren indischen Texten (Dâmannaka, Čandrahâsa) vorkommt, ausgeübt.

In der Konstantinlegende will der Kaiser nach der Prophezeiung (welche dem Kinde auch die Kaiserstochter zur Frau verspricht) das Kind mit eigener Hand töten und befiehlt dann, den schwerverwundeten Knaben ins Meer zu werfen. Der Höfling setzt jedoch das Kind in der Nähe eines Klosters aus. In der Heinrichslegende lässt der Kaiser das Kind von Dienern im Walde töten: das Kind wird jedoch von ihnen ausgesetzt. Konstantin wird von den Klosterbrüdern gefunden und – weil seine Heilung viel gekostet hat – ‘Coustant’ genannt. Der Befehl des Kaisers, das Kind ins Meer zu werfen, sowie die Erklärung seines Namens deuten auf eine nähere Verwandtschaft mit der Thalassionlegende. Heinrich wird von einem Herzog gefunden und erzogen und ist nicht niederer Herkunft, sondern der Sohn eines Adeligen, welcher sich vor dem Zorn des Kaisers in den Wald geflüchtet hat. Die vornehme Herkunft sowie die Erziehung des Knaben durch einen Herzog kommen auch in der Čandrahâsageschichte vor. Das Todesbriefmotiv ist in der Konstantinlegende entschieden mit den Dâmannaka- und Čandrahâsaromanen verwandt.

Für die anmutige Gartenszene, in welcher das Mädchen sich in den schlafenden Boten verliebt und den Brief ändert, müssen wohl die drei Versionen eine gemeinsame Quelle haben. Die Heinrichslegende schildert die Botschaft mit dem Todesbrief anfangs wie die Boddhisattvageschichte: der Bote übernachtet unterwegs bei einem Priester. Der Brief wird jedoch von dem Priester selbst gelesen und abgeändert (der Held heiratet nicht die ‘Brahmanentochter’, sondern die Prinzessin, also die Tochter des ‘reichen Mannes’). Die weitere literarische Nachkommenschaft der beiden Legenden bringt für ihre Abstammung nichts Neues.

Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 29. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1919, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_29_026.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)