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Dass Benfey übertreiben musste, nur um gehört zu werden, ist begreiflich genug, stand doch die ganze damalige wissenschaftliche Welt unter dem Eindruck der uferlosen mythologischen Spekulationen grimmischer Nachfolger.

Benfey hatte im Gegensatz dazu höchst gesunde und solid fundierte Ansichten über das Märchen, die bis auf den einen Punkt noch heute unwiderlegt sind. Man sollte ihn daher nicht, wie es meist geschieht, einseitig mit dem Standpunkt der indischen Entstehung des Märchens abtun, sondern das Schwergewicht mehr auf die ungleich wertvollere Tatsache legen, dass Benfey die engen Wechselwirkungen zwischen literarischer und volkstümlicher Tradition klar erfasst hat; dass er das Märchen aus dem mythologischen Nebel heraushob, in ihm ein Kunstprodukt erkannte und für den kulturhistorischen Hintergrund ein entschiedenes Verständnis besass, dass er die Wanderwege oft glücklich angeben konnte und dem Begriff der Entlehnung zum Siege verhalf. Die Überschätzung Indiens aber war, daran gemessen, eine lässliche Sünde.

Gerade auch Aarnes Arbeiten zeigen deutlich, einen wie grossen Anteil Indien an der Entstehung der Volksmärchen hat. Von den sechs von ihm eingehend behandelten Märchen sind drei indischen Ursprungs, eines indisch oder vielleicht persisch. Die beiden anderen verwenden mindestens Motive älteren indischen Erzählguts, doch liegt das eine von ihnen, was Aarne entgangen ist, bereits in einer chinesischen, aus dem Indischen entlehnten Fassung vor, die spätestens um 500 n. Chr. entstanden sein kann[1], also wohl auch indischen Ursprungs sein dürfte.

Freilich lässt sich aus diesem geringen Material kein Schluss ziehen, und die Einzeluntersuchungen wird man noch lange fortsetzen müssen, um einen sicheren Grund für die Beurteilung der Heimat der Märchen zu gewinnen. Wahrscheinlich wird es sich aber zeigen, dass von den weitausspinnenden, biographischen, oft genrehaften Zaubermärchen die Mehrzahl in Europa entstanden ist, unbeschadet der Verwendung orientalischer Motive; dass dagegen die schwankhaften, oft auch die legendarischen, dann die nicht seltenen didaktischen oder doch in besonderer Weise tendenziösen Stoffe sehr häufig orientalischer Herkunft sind. Der Reichtum der überlieferten indischen Unterhaltungsliteratur beweist jedoch mindestens eine Vorliebe für märchenhafte Erzählungen, wie sie für kein anderes Land vorausgesetzt werden kann; es liegt daher, wie Aarne richtig bemerkt, gar kein Grund vor, zu bezweifeln, dass die Inder auch Märchen verfasst haben.

Den Einfluss dieser Literatur auf die mündliche Tradition hat Benfey in der Tat wohl etwas überschätzt. Sein vergleichender Blick konnte bei dem damaligen dürftigen Material an mündlichen Aufzeichnungen


Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1915, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_25_162.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)