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Offen gestanden, ich war einigermasen erstaunt – ich hatte etwas à la Richard Wagner, „Tannhäuser“ 1. Akt, erwartet: Rosa gaze-Schleier, Tigerfelle, goldene Schlangen auf geschminkten Hautflächen, und – das war das Berner Kostüm. – Sie lächelte mich mit ihren blizenden Augen vergnüglich an, und gab mir wieder Vertrauen. Sie schien meine Beklommenheit zu bemerken und schien sagen zu wollen: Wir sind ja nicht in Kipris, und Du bist kein Fönizjer. Ich kann ja hier nicht aus den Wellen steigen, und Du trägst ja nicht den roten Schiffermantel des Kiprjoten. Man muß mit den Zeiten und mit der Mode gehen, mein Haus steht Dir offen.

Ich begriff das Alles, ich war wieder orjentirt – aber eine neue Besorgnis lähmte meine Schritte. Ich fürchtete, sie werde mich Griechisch anreden, und ich – ich muß es offen gestehen – hatte fast All’ mein Griechisch vergeßen; ja, ich darf es nicht verhehlen, ich wußte sozusagen gar kein Griechisch mehr. Ich wußte noch ἀλήθεια, die Wahrheit, und θάλαττα! θάλαττα!, das Meer – aber von Meer war ja hier gar keine Rede – wir waren ja mitten in den Bergen – ich konte sie also mit diesem Gruß nimmermehr anreden .....

Sie aber lachte, herzig und innig, und sagte: „Grüetsi!“[1]

Dem Himmel Dank! – antwortete ich – daß ich Sie treffe, Sie götliches Wesen – ich hätte Sie mir nicht so groß vorgestelt ....

„Ja, das ischt ja nüd groß ....“

Doch doch – ganz überwältigend – voller Pracht und Schönheit! .... und ich nahm ihre Hände, die nicht sehr klein waren, und bedeckte sie über und über mit heißen Küßen.

„Ja, was mached Si da jezt fur dumms Züg .... lönd Si das blibe!“

Und diese Talje! – rief ich – beim Herkules! – Juno hatte keine gewaltigere – und diese keusche Fülle – Alles frisch vom Morgentau umglänzt – von Selene gewaschen – vom Sol gestärkt .... ich nahm dieses übergewaltige Wesen mit den pochenden Brüsten in meine Arme und preßte es an mich, wie Venus vielleicht nie in ihrem Leben umschlungen worden ist .... es dauerte eine Weile übermenschlichster Anstrengung, dann hörte man einen Schrei, so furchtbar und stimmbandzerreißend, daß man glaubte, Pallas Athene sei mit der flammenden Aegis vom Olymp heruntergefahren, um die Trojaner von den Schiffen zu vertreiben – ein siebenfaches Echo umflamte uns von allen Seiten, eines von St. Gallen, eines von Einsiedeln, eines vom Bodensee, eines von Zürich, eines von Winterthur, eines von Schwyz .... dann ließ ich die Maid los, sezte sie vor mich hin, und trat einen Schritt zurük, um mir die gewaltige Gestalt zu betrachten .....

Sie schien äußerst erbost, ihr Gesicht war über und über mit Purpur übergoßen, und stach von der blizweißen Halskrause und den frischgestärkten Aermeln ab wie eine Schüßel frischgepflükter Himbeeren von dem weißen Tischtuch.

Dann dauerte es eine Weile, und dann hörte man von jenseits des Hauses her ein langgezogenes, friedliches, vertrauliches „Muuuuuh!“ –




  1. Die Schriftleitung muß es sich versagen, hier auf die merkwürdige Sprachmischung einzugehen, welche das Eindringen des Griechischen in das Alemannische der Schweizer Berge schon während der lezten Jahrhunderte vor Christus, von Süd-Gallien, besonders von dem alten Marsilia, dem heutigen Marseille aus, welches eine rein-griechische Kolonie war, erzeugte. Der Verfaßer der obigen Erzählung scheint selbst bei seiner fast gänzlichen Unkentnis des Griechischen dieses seltene Idjom, wie es noch in einigen entlegenen der Polizei nicht zugänglichen Schlupfwinkeln und Kultstätten gesprochen wird, nicht zu verstehen, woraus sich einige komische Verwiklungen und Situazjonen ergeben. Ein Idjotikon des hellenischen Schwizer-Dütsch ist von den fleißigen Herausgebern des Schweizerischen Idjotikon, Staub und Schoch, in Aussicht genommen. Das eine Wort hier können wir ja übersetzen: „Grüetsi!“ heißt: „Welchen Wein trinken Sie?“
Empfohlene Zitierweise:
Oskar Panizza u. a.: Zürcher Diskußjonen. Zürich, Paris: , 1897–1900, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Z%C3%BCrcher_Disku%C3%9Fjonen_(18%E2%80%9319)_006.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)