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der Kirche zu begründen, und im Nothstand liegt auch, um zu wiederholen, der ganze Anlaß zur Ausstellung seiner Theorie. Er hätte nicht daran gedacht, kraft des allgemeinen Priesterthums die Böhmen und andre zur Selbstberufung von Lehrern zu ermuntern, wenn die Bischöfe reine Lehrer hätten geben können und wollen. Er sagt: „Nu zu unsern Zeiten die Noth da ist und kein Bischof nicht ist, der evangelische Prediger verschaffe, gilt hie das Exempel von Tito und Timotheo nichts, sondern man muß berufen aus der Gemeinde, Gott gebe, er werde von Tito bestätigt oder nicht. – – – Diese Zeit ist gar ungleich den Zeiten Titi, da die Apostel regierten und rechtliche Prediger haben wollten. Jetzt aber wollen unsre Tyrannen eitel Wölfe und Diebe haben.“ So weit hat er denn auch gewissermaßen Recht.

 Hat er aber einiges Recht, gegenüber dem abfälligen Ministerium aus dem Nothstand der Gemeinde eine Befugnis derselben zur Selbsthilfe abzuleiten – eine Befugnis für einen Nothstand, der genau genommen nur äußerst selten oder vielleicht kaum je eintritt; so haben wir in unsern Zeiten tausendmal Recht, beim großartigen Verderben der Gemeinden auf das Recht des Amtes hinzuweisen, rechte Lehrer zu setzen und sich unter einem unschlachtigen Geschlecht selbst wider Willen desselben fortzusetzen. Fand sein Novum in seinen Zeitumständen Entschuldigung, wie viel mehr wird die apostolische Weise aus unsern Zeitumständen gerechtfertigt werden können. Sagt doch Luther selbst in seiner Schrift „Grund und Ursach aus der Schrift etc. 1523“, auch rechtschaffene Bischöfe sollten nach seiner Meinung ohne der Gemeinde Willen, Erwählen und Berufen keine Prediger setzen, „ausgenommen wo es die Noth erzwänge, daß die Seelen nicht verdürben aus Mangel göttlichen Worts; denn Noth ist Noth und hat kein Maß, gleichwie jedermann zulaufen und treiben soll, wenns brennt in der Stadt und nicht harren, bis man ihn drum bitte.“ Diese Noth dürfte gegenwärtig fast in allen Gemeinden sein. – Zwar war auch zu Luthers Zeiten diese Noth nicht selten. Wie wenig Freude hatte Luther an so vielen Gemeinden seiner Zeit, selbst an der Wittenberger, die er in seinen alten Tagen mehrere Male verließ vor Jammer und Kummer über ihre sittliche Beschaffenheit! Was für Urtheile und Klagen liest man bis auf diesen Tag aus seiner Feder, Urtheile und Klagen, ganz den unsern gleich! Und diesen Gemeinden, so wie sie damals waren, so wie sie annoch sind, so wie sie vielleicht meistentheils auch ferner sein werden, will man so ohne Weiteres die Befugnisse zusprechen, die Luther aus dem geistlichen Priesterthum wahrer Christen ableitet? Sie, denen das geistliche Priesterthum, so wie es unter ihnen steht, meist nur aus Hochmuth und als Waffe gegen das heilige Amt angenehm ist, die von den Pflichten dieses Priesterthums, zu opfern geistliche Opfer, keine Idee haben, geschweige Sinn dafür und Uebung davon, – sie sollten Wahl und Berufung der Prediger in ihren Händen haben? Gewis nicht! Man vergeße doch nicht, daß man auf dem Boden der Wirklichkeit lebt und wende die Lehre vom geistlichen Priesterthum nicht so an, daß unter heiliger Firma der Feind der Seelen sich maskire und Macht und Gewalt innerhalb der Kirche an sich ziehe!

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Wilhelm Löhe: Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern. Verlag der C.H. Beck'schen Buchhandlung, Nördlingen 1850, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Unsere_kirchliche_Lage_im_protestantischen_Bayern.pdf/112&oldid=- (Version vom 1.8.2018)