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wußte, daß er Seine letzte Woche anfinge, wenn Er heute nach Jerusalem einreiten würde; aber Er ritt dennoch ein, Er kam. Wie sollte sonst die Schrift erfüllt werden? Er kam, – und zwar mit der größten Absicht, die es geben konnte. – Jerusalem und das ganze Volk der Juden waren voll Sünden. Von der Fußsohle an bis auf’s Haupt ward nichts Gesundes funden, sondern Wunden der Seelen und Striemen und Eiterbeulen, die nicht geheftet, nicht verbunden, noch mit Oele gelindert waren. Die heilige Stadt war nur dem Namen nach noch heilig, selbst der Tempel war zur Mördergrube geworden. Judäa hatte das Maaß seiner Sünden fast schon voll gemacht, Samaria war ein Gräuel vor Gott, Galiläa hieß der Heiden Galiläa. Und wie Judäa, so alle Lande. Des Schöpfers Ehre war durch der Menschen Bosheit so verdeckt, daß die Augen der Frommen vor vergeblichem Suchen nach der Ehre Gottes auf Erden weinen mußten, und nur die Engel, die mit andern Augen sehen, noch singen konnten: „Alle Lande sind Seiner Ehre voll!“ Die Sünde der Welt war in dicken Wolken aufgestiegen, welche rings um die Erde lagen und das gnadenreiche Licht des Angesichts Gottes wegnahmen. Die Welt häufte tagtäglich Zorn auf den Tag des Zorns und gerechten Gerichts Gottes. Die Sündenwolken aber, welche das Angesicht des Herrn vor ihr verbargen, däuchten ihr Schilde zu seyn, unter deren Schatten sie sicher und ruhig fortsündigen könnten. Denn vor lauter Sünde wußten sie nicht mehr, was Sünde ist. Es war eine betrübte, schwere Zeit!

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 Nun war aber auch die Zeit erfüllt, die Noth auf’s höchste gestiegen, die Hülfe nöthiger, als nöthig. Nun mußte der Helfer kommen, der Versöhner, der Bürge erscheinen! Und nun erschien Er! Am Abend der Welt ward’s helle: siehe, da reitet Er ein in Jerusalem! Die Welt ahnt’s nicht: weder der Kaiser in Rom denkt daran, noch irgend ein Bewohner der Wüste, der nichts vermag.