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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

kein erträumter Stern, auch keiner, wie man ihn sonst am Himmel sieht, der unschuldig bei den Menschen eine Deutung findet, welche er im Himmel nicht hat, sondern ein Stern deutet ihre Ankunft an, der einzig ist in seiner Art und die Theilnahme des HErrn und Seiner Himmel an ihrer Erscheinung auf Erden auf das kräftigste beurkundet. Darum zaudern die Weisen nicht, sie stehen auf und reisen aus ihrer weiten Ferne, wohl Hunderte von Meilen her zu dem Heimathland des Neugeborenen. Sie kommen und bringen aus der Fremde her nach Jerusalem die Kunde von dem, was in Jerusalems nächster Nachbarschaft unbeachtet geschehen war. Sie bringen durch ihr bestimmtes Fragen, durch ihre zweifellose Erwartung Herodes und Jerusalem in Aufregung aus dem sichern Schlafe eines weltlichen Lebens. Aus dem allen ist gewis, daß bei den Weisen das Evangelium des Sternes gezündet hat. Laßt uns sehen, wie es von Israel aufgenommen wird.

 Es ist wunderlich, meine Freunde. Nicht ohne Grund, nicht ohne sicheren Bericht aus dem grauen Altertume habe ich im Eingang dieser Betrachtung gesagt, die Juden hätten mit sehnlichem Verlangen auf die Erscheinung ihres Christus gewartet, sie seien durch Weißagungen von immer zunehmender Klarheit auf Seinen Empfang vorbereitet gewesen. Ich darf wohl auch dazu setzen: sie haben gewußt, daß die Zeit Seiner Ankunft vorhanden war, − und den Ort wußten sie auch, wie die Antwort der Hohenpriester und Schriftgelehrten in unserm Evangelium beweist. Nun kommen die Magier, die Weisen aus Morgenland und bringen auf eine auffallende, sich von selbst einprägende Weise die längst ersehnte Botschaft − und was lesen wir nun? Wir lesen zuerst: „Herodes erschrack“ − und das ists nicht, was ich wunderlich nenne. Das versteht sich, daß Herodes erschrack; er hatte Ursach zu erschrecken. Man hätte ihm freilich zusingen können:

Was fürchtst du Feind Herodes sehr,
Daß uns geborn kommt Christ, der HErr?
Er sucht kein sterblich Königreich,
Der zu uns bringt sein Himmelreich!

 Aber er hätte es doch nicht verstanden. Ein Herodes kann nur erschrecken, wenn ihm etwas Himmlisches und Gutes begegnet, geschweige wenn ihm der allein gute König des Himmels in den Weg tritt. Aber das ist verwunderlich, daß es heißt: „Herodes erschrack und mit ihm das ganze Jerusalem.“ Das ganze Jerusalem! man erschrickt wohl auch sonst vor dem, was man wünscht, wenn es unerwartet hereintritt. Es ist, als ob man das Gute, von dem man so gerne singt und sagt, doch nicht im vollen Ernste glaubete: so auffallend ist oft das Erschrecken vor dem längst ersehnten Glücke, wenn es nun endlich erscheint. Aber man pflegt sich doch sonst von einem solchen Schrecken wieder zu erholen und dann desto herzlicher und brünstiger das erschienene Heil zu umfaßen, während in Jerusalem der Art nichts sich kund gibt. Herodes forscht und fragt, die Hohenpriester und Schriftgelehrten antworten und zwar ganz richtig, so daß den Weisen der richtige Weg gezeigt werden kann, den sie noch zu wandeln haben. Aber das ist auch alles, wenn man nicht, um sich durch Erwähnung gegentheiliger Umstände und eine traurige Vollständigkeit den Schmerz zu erhöhen, hinzufügen will, daß Herodes den Weisen das Wiederkommen befohlen und gleisnerisch eine Nachfolge ihrer Anbetung verheißen hat. Bis zu den Thoren Jerusalems, bis zum Wege nach Bethlehem geleitet man sie, aber niemand geht mit. Wie echte Gelehrte dieser Welt sind Hohenpriester und Schriftgelehrten mit dem puren Wißen von dem, der kommen soll, zufrieden, ohne sich im Mindesten um das Auffinden des Erkannten selber zu bemühen. Natürlich! Was wären denn sie, wenn es nichts mehr zu fragen und zu antworten, nichts mehr zu disputiren gäbe, wenn Seine Erscheinung allem Fragen und Schwatzen von Ihm ein Ende machte? Ihnen ists genug, zu wißen, wenn sie auch nicht haben. Sie sind mit dem Bilde zufrieden, die lebensvolle und lebendigmachende Person begehren sie nicht. Buchstabens voll, haben sie keinen Platz für Den, von Dem der ganze Buchstabe des alten Testamentes Zeugnis gibt. Es ist zum Erstaunen, wie gar keine Neugierde dies Volk in seiner höchsten Angelegenheit äußert. Während man die Weisen mit jenem Kaufmann vergleichen könnte, der Perlen suchte, und als er Eine köstliche Perle fand, alles ließ, um sie zu kaufen; sind die Juden Leute, welche einen unermeßlichen Schatz im Acker haben, wißen, kennen, nicht mögen, stehen und liegen laßen, wie wenn sie gar nicht merkten, daß sie berufen waren, ihn zu heben und sich seiner zeitlich und ewig zu freuen. Sie merken ihre Berufung zu Christo gar nicht, so laut, so deutlich sie

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 061. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/72&oldid=- (Version vom 22.8.2016)