Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/58

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am Neujahrstage, als am Beschneidungsfeste des HErrn.

Evang. Luc. 2, 21.
21. Und da acht Tage um waren, daß das Kind beschnitten würde, da ward Sein Name genannt JEsus, welcher genennet war von dem Engel, ehe denn Er in Mutterleibe empfangen ward.

 DEr heutige Tag ist kein selbständiges Fest, sondern der letzte Tag des Weihnachtsfestes, welches wie jedes von den drei Hauptfesten der Christenheit, nach den Gedanken der Väter einen Zeitraum von acht Tagen umfaßt. Was wir seit dem Geburtstag unsers HErrn gesungen und gepredigt haben, das tönt noch heute fort. Und doch hat auch der heutige Tag wieder seinen besonderen Charakter und er unterscheidet sich von dem Geburtstag des HErrn, wie sich von der Geburt die Beschneidung unterscheidet, zu deren besonderem Andenken er gefeiert wird.

 Am Weihnachtsfeste sehen wir die allerheiligste Person des neugebornen JEsus und bewundern anbetend das große Geheimnis „Gott ist geoffenbaret im Fleisch“, welches uns in dem Neugeborenen, sollen wir sagen enthüllt oder verhüllt wird? Denn wie aller ihm gebührenden Herrlichkeit entäußert und entledigt hat Sich unser HErr bei Seiner Geburt! − Wir sehen Ihn in der Krippe − und wir wißen, Er ist’s, der die Welt erlösen soll, der Mittler zwischen Gott und Menschen. Er ist es trotz der Niedrigkeit, die Ihn umhüllt. Alles, was nach der Weißagung vor Seiner Geburt eintreten sollte, ist gekommen und erfüllt: Er ist es, auf den Himmel und Erde harrten, wir dürfen keines andern warten. Aber, wie sicher Ihn auch der Glaube an Seinem Geburtstage erkenne und schaue: Spuren des Amtes und Werkes, zu welchem Er Mensch geworden, sind an Ihm so wenig, als Spuren der Herrlichkeit zu erkennen, die Ihm vom Vater bereitet ist. Heute aber, an Seinem Beschneidungstage, finden wir solche Spuren; eben in der Beschneidung, von welcher der Text spricht, finden wir sie. Wir dürfen behaupten und es wird sich alsbald zeigen, daß uns die Beschneidung die erste tatsächliche Weisung über den Zweck Seiner Geburt gibt, und wir dürfen hinzusetzen: die Beschneidung beginnt bereits die Erfüllung des heiligen Lebensberufes, für welchen Er geboren ist. Aus der Beschneidung fällt Licht auf die Geburt des HErrn, so wie man auch umgekehrt sagen kann, daß Christi Geburt auf Seine Beschneidung das herrlichste, wunderbarste Licht fallen läßt. Wohl schließt und vollendet sich deshalb das Fest der Geburt JEsu mit dem Feste der Beschneidung: beide Feste gehören unzertrennlich zusammen.

 Was wir hiemit behauptet, möge in dem Folgenden sich bewähren. In der Beschneidung wird der Neugeborne unter das Gesetz gethan; wer sich beschneiden läßt, verpflichtet sich, wie St. Paulus ausdrücklich lehrt, das ganze Gesetz zu halten. Da nun der HErr beschnitten wird, übernimmt er offenbar dieselbe Verpflichtung. Auch andere israelitische Knäblein übernahmen sie bei ihrer Beschneidung, aber nur wie eine Schuld, die sich von einem auf den andern vererbt, ohne daß Hoffnung, oder auch nur Möglichkeit da ist, ihr nachkommen zu können. Bei diesem Säugling, der heute zur Beschneidung gebracht wird, ist es anders. Er kann die Verpflichtung übernehmen, Er vermag es, das ganze Gesetz zu halten; dafür bürgt uns Seine heilige Empfängnis und Geburt und die wunderbare Vereinigung göttlicher und menschlicher Natur in Ihm: diesem Knaben ist alles zuzutrauen, was sonst kein Mensch vermag. Er will die Verpflichtung

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 047. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/58&oldid=- (Version vom 22.8.2016)