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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

mir ist eine Stimme, die „vorwärts“ ruft, und mich däucht, sie breche mir aus dem tiefsten Innern hervor, sie verklärt sich mir zum lauten Hosianna, wenn ich bete, zur Warnung, zur Ermunterung für euch, zu einer Stimme der Heiligung für mich armen Sünder selber. Aber heute darf und soll nicht vergeßen werden, daß der HErr Großes an uns gethan hat, daß Er uns befreit hat von großer Plage, und daß Er den Tempel nicht bloß gereinigt hat, sondern auch Selbst in ihm geblieben ist. Man werfe der lutherischen Kirche vor, was man will, man sehe sie mit noch so geringen Augen an, man sehe sie noch geringer an, als sie ist: das bleibt wahr, das hält uns bei ihr, das macht uns glücklich in ihr, das gibt uns Muth und Geduld, ihre Mängel und Gebrechen und den Verzug ihrer Verklärung zu ertragen, daß Gottes süßes Evangelium und Er Selbst, der am Palmensonntag einzog, mit Seinem reinen Wort und unverkümmerten, unverstümmelten Sacramente noch bei uns ist, und daß deshalb die Lahmen und die Blinden, in unsern Vorhöfen des Hauses Gottes Licht und Kraft empfangen können für ihre erstorbenen Augen und lahmen Glieder, wenn gleich sie nach empfangenem Lichte noch manches bei uns unaufgeräumt und ungeordnet finden mögen. Man predigt uns immer, wir sollen unsre alte Schuld und Sünde erkennen, und man hat Recht, und wir bekennen sie auch und ist uns nie eingefallen zu behaupten, daß wir ohne Schuld und Sünde seien. Aber wenn wir gleich elend und schwach, ein armer, sündiger Haufe sind; so wohnen wir doch an der stillen Quelle Siloah und am Teiche Bethesda und können genesen, und abgesehen von uns selber, in Anbetracht des HErrn, Seiner Gegenwart, der Kraft Seiner Sacramente und Seines Wortes, der Reinigung von Menschenkram und Menschentand, können wir getrost behaupten und sagen: Wer blind oder lahm ist, der komme nur und versuche es mit dem, was unsre Kirche, die von der Welt verachtete Bettlerin, in ihrer Hand hat und geben kann. Es wird sich zeigen, daß sie nur arm und schwach ist an Dingen, die sich ersetzen und herzubringen laßen, daß sie aber reich ist an dem, was ewig selig, was heilig und Gott wohlgefällig macht. Und daß wir das sagen dürfen und ohne Hochmuth sagen können, das ist unsre Festfreude und dafür singen wir dem HErrn heute das Halleluja und Dreimalheilig!

 Eins aber sei euch unverholen, auch heute unverholen, meine theuern Freunde und Brüder; denn auch der Jubel und die Freude meines Herzens, welche mich heute durchdringt, vermag dies Wort nicht zurückzudrängen, das ich meine und im Herzen habe. Der HErr hat gesagt: „Mein Haus ist ein Bethaus allen Völkern“ − und das ists, was mich, wenn ich daran denke, betrübt und traurig machen kann. Wie schön wäre es, meine Freunde, wenn die lutherische Kirche heute, am Festtag, der ihr eigen zugehört, ein Bethaus wäre, wenn ihre heutigen Versammlungen betende Versammlungen wären! Der HErr ist wohl unter uns mit Seinem Wort und Sacramente, Er ist da; aber wir, die Kinder der so begnadigten Kirche, erkennen und verstehen unsern Vorzug und die Gnade der Gegenwart Christi so wenig: es fehlt uns der Geist der Anbetung und des Gebets, unsre Versammlungen sind viel zu sehr nur dem Predigthören gewidmet, alles andere ist viel zu sehr als Nebensache angesehen, unser Volk versteht es nicht, zusammen Den anzubeten, zusammen Dem mit Lob und Dank zu begegnen, der so gerne unter den Lobgesängen Seines Israel wohnt! Unsere Kirche ist kein Bethaus − die Altäre, wo man thun soll Bitte, Gebet und Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, wo man im größten Ernste unabläßig opfern sollte Dem, der sich für uns geopfert hat, − sie sind verwaist, sie werden nicht gebraucht, wie es sein sollte. Auch wollen die wenigsten in unsern Gemeinden zusammen beten lernen; sie sind zu unkindlich, sie schämen sich fast, einmüthig und einhellig dem HErrn zu dienen. Die Priester schämen sich, das Volk beten zu lehren und ihm vorzubeten, und das Volk schämt sich, nachzubeten. So wird der seligste Zweck des Zusammenseins nicht erreicht, das Wort kommt nicht zur vollen Kraft, das Sacrament wird nicht mit den seligen Vorbereitungen der Gebete empfangen, findet drum nicht den rechten, bereiteten Boden. Unsre Kirche, ich wiederhole es mit Jammer, aber auch mit Hoffnung zu Dem, der es beßern kann, ist noch nicht, was sie soll, ein Bethaus, sondern das Wort JEsu: „Mein Haus ist ein Bethaus“ ist für sie einerseits ein demüthigendes, beschämendes Wort der Strafe, andererseits erst eine Verheißung deßen, was werden soll und noch nicht ist.

 So lange nun aber unsere Kirche überhaupt kein Bethaus ist, wird sie auch kein Bethaus aller Völker

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/522&oldid=- (Version vom 31.7.2016)