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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Wirkung des Gesetzes, noch so häufige Segnungen des Evangeliums. Die Mehrzahl der Menschen geht dahin ohne Ahnung, wie schlimm es um sie steht, und wie gut es um sie stehen könnte. Gottes Wort scheint nicht so wirksam zu sein. Aber das ist denn doch nur Schein. Denn die mangelnde Wirkung hat ihren Grund nicht in der mangelnden Lebenskraft des Wortes, sondern theils in der Beschaffenheit des menschlichen Herzens, theils in dem verkehrten Gebrauche von Gesetz und Evangelium. Von der Beschaffenheit des menschlichen Herzens, welches dem göttlichen Worte widerstrebt, dem Worte, welches keinen Widerstand anerkennt, als den des Herzens, in dem es wirken möchte, welches vor nichts zurückprallt, als vor verschloßenen Herzensthüren, − von dieser Beschaffenheit des Herzens, dieser Macht der Erbsünde wollen wir schweigen für dies Mal. Es wird anderwärts Gelegenheit, davon zu zeugen, gegeben haben und noch geben. Aber von dem verkehrten Gebrauche des Gesetzes und Evangeliums wollen wir noch einiges sagen, oder vielmehr, wir wollen vom rechten Gebrauche reden, aus welchem sich der falsche Gebrauch wie von selber straft.

 Der rechte Gebrauch besteht in einer scharfen Trennung des Gesetzes und Evangeliums − und in einer richtigen Aufeinanderfolge der beiden.

 Das Gesetz hat ein ganz anderes Amt, als das Evangelium, wie bereits oben gesagt wurde. Das Gesetz fordert, − das Gesetz zeigt unsre Armuth, nach welcher wir nicht geben können, − das Gesetz zeigt, wie gar nichts wir verdienen außer Zorn und Strafe, − das Gesetz enthüllt uns Gottes Gericht und Urtheil, bevor der Gerichtstag kommt, − es richtet in uns Angst an über Gottes Zorn. Das wirkt das Gesetz − und dazu ist es gegeben. Wer es daher so gebrauchen will, daß er durch Gesetzespredigt zu den Forderungen des Gesetzes geneigt werden und sie erfüllen will, der hat dem Gesetz eine Absicht untergelegt, die es nicht hat. Daß du nicht halten kannst, was Gott von dir fordert, ist Gott voraus bekannt, denn Er weiß wohl, was für ein Gemächte wir sind. Er fordert dir deine Schulden nicht an, daß du sie zahlen könntest; sondern du sollst durch das ernste Fordern und Dringen je länger je mehr zu der Erkenntnis kommen, daß du nichts kannst, als Böses. Dadurch sollst du gedemüthigt werden, in Erkenntnis deiner Sünden. Diese Absicht mußt du faßen, so oft dir Gesetz gepredigt wird. Alsbald sollst du denken: Nun will mich mein Gott demüthigen. Meine unerkannten Sünden will Er mir im Lichte Seines Angesichtes zeigen, meine vergeßenen will Er mir wieder in Erinnerung bringen, meine erkannten mir aufs neue recht abschreckend und abscheulich darstellen, meine Unreinigkeit, meine Verderbtheit will Er mir zeigen. Wohl auf, mein Herz, laß dich demüthigen, − denn den Demüthigen ist Er gnädig. − So sanft, so streng, – so leise, so laut dir das Gesetz gepredigt wird: immer gilt es, Buße zu thun und nichts anderes.

 Ganz anders ist es mit dem Evangelium. Das Amt des Evangeliums ist: trösten die Traurigen, locken die Mühseligen und Beladenen, die Sünder berufen, die hungrigen und durstigen Seelen speisen mit der Versicherung der Gnade, den Starken den Grund ihrer Stärke und den Heiligen den Grund ihrer Heiligung immer aufs Neue zeigen. Alles, was tröstet, ist Evangelium. Alles, was straft, ist Gesetz. Das Gesetz, aber nicht das Evangelium soll dich ängstigen. Das Evangelium wird nie gegeben, um einem Menschen einen Vorwurf zu machen, sondern es bietet immer nur Gnade an. Das Evangelium straft nicht wegen deines Unglaubens, sondern es bietet dir Vergebung des Unglaubens an. Wenn dir das Evangelium bange macht, als wäre es nicht für dich, so liegt der Grund davon nicht im Evangelium, sondern in deinem Herzen und in der Versuchung des Satans. Das Evangelium ist für alle, die sich ihm zuwenden, und es ist keine Zeit auf Erden, wo diese Stimme des Blutes JEsu in die rächende Stimme des Blutes Abel verwandelt werde; es ist keine Zeit, wo es aufhören könnte, dem Menschen zum Trost vermeint zu sein. Das Evangelium gilt, so lange dir die Sonne scheint, und bleibt dir gewärtig bis ans Ende der Tage. Glaubst dus, selig bist du. Glaubst du nicht, so wartet es dennoch deiner. Es segnet dich, wenn du ihm entgegenjauchzest und wenn du es mit Thränen über deine Unwürdigkeit empfängst. Es umfaßt, es fäht dich, wenn du es auch nicht vermagst, es zu faßen. Es richtet dich nicht, wenn du mit mattem Verlangen es aufnimmst − es wird dir alles in allen Zeiten, allzeit eine Botschaft der Gnade und Vergebung, allzeit eine unumstößliche Zusage deines Gottes.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/454&oldid=- (Version vom 24.7.2016)