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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

alsdann fliehe auf die Berge, wer im jüdischen Lande ist.“ (Matth. 24, 15. 16.) Sie flohen von Jerusalem zu guter Zeit und zogen gen Pella, die jenseits des Jordans lag, und ihrer keiner wurde deshalb in das gerechte Gerichte Gottes hineingezogen, − doch Jerusalems Zerstörung ist nur ein zeitliches Gericht. Könnte ich dir aber des Himmels Thore öffnen; so würdest du im Glanze der Seligkeit viele große Schaaren von Menschenkindern sehen, welche nicht mehr gerichtet werden, sondern für alle Ewigkeit der Angst und dem Gerichte entnommen sind. Und könntest du von denen, die noch leben, nach Gottes Sinn urtheilen: so würdest du auch unter ihnen Auserwählte in nicht geringer Zahl erkennen, die da Glauben halten, den Lauf vollenden und die Krone erlangen. Denn so gering gegen die Menge derer, welche durch ihre Schuld verloren gehen, die Schaar der Seligen ist; so ist sie doch groß und zahlreich genug zum vollstimmigen Chore des Lammes Gottes.

 Es ist also nicht nothwendig, daß man die Zeit der gnädigen Heimsuchung Gottes verkenne und daß einem die Zukunft der göttlichen Gerichte verborgen sei. Es ist also auch nicht nothwendig, daß man, was zum Frieden diene, unbedacht und unerwogen laße. Man kann zur Erkenntnis der Gnade und zur Furcht vor dem Gerichte, man kann zum Verständnis und zum Gehorsam des göttlichen Wortes und seiner Anweisungen kommen und also dem zukünftigen Gerichte entfliehen. Es liegt alles daran, daß uns, wie den ersten Jüngern, wie den Christen, die nach Pella zogen, das Auge von Gott geöffnet werde über Gegenwart und Zukunft. Aber von Gott muß es geöffnet werden. Ja noch mehr, von Gott muß die Kunde kommen, welche der natürliche Mensch nicht faßt, daß wir blind sind von Geburt für alle Wahrheit, die zum ewigen Leben führt. Wer sich nicht blind fühlt, wird um’s Licht nicht sorgen. Wer aber seine Blindheit fühlt, hat bereits den ersten Strahl des Lichtes empfangen, der nach weiterem, nach vollkommenem Lichte verlangend macht. Das ist das Erste, was Gott geben muß. Das Zweite erst ist Erkenntnis der Gegenwart, der Gnadenzeit; denn die Gegenwart ist Gnadenzeit. Die Gnadenzeit aber erkennen heißt nichts anderes, als Christum erkennen. Denn Gnade und Wahrheit ist uns in Christo geworden, und ohne Ihn gibt’s keine Gnadenzeit. Wer Ihn erkennt, der hört auf Ihn, empfängt aus Seinem Munde, wie Maria, Lazari Schwester, das Eine, was noth ist, die neue Creatur mit neuen Sinnen. Wer das hat, hat das Eine, − und wers behält, hat alles, auch die Furcht des HErrn, daß er sich mit Zittern freut und seine Seligkeit schafft mit Furcht und Zittern. Das dient ihm dann zum Frieden für den Tag des allgemeinen Aufruhrs, wenn der HErr zum Gerichte kommen wird; denn es wird ihn nicht faul noch träg sein laßen im Werk des HErrn, er wird ein Knecht werden, welchen der HErr, wenn ER kommen wird, also wird finden thun, wie es Ihm gefällt und echten Glaubens Zeugnis gibt.

 Wie aber nimmt uns der HErr die eigene Finsternis, wie überwindet, wie erleuchtet, wie erneuert ER das Herz? Das ist die letzte Frage, die ganz eine ist mit der: wie komm ich dahin, zu bedenken, was zu meinem Frieden am Gerichtstag dient? − Eine einfache Antwort gebe ich dir. Er gibt das Eine, was Noth ist; nimm es nur. Er gibt alles durch Wort und Sacrament, und du empfängst Alles, wenn du das Wort hörst und die Sacramente nach ihrem Zwecke gebrauchst. Willst du von der Blindheit erledigt und ein Kind des Lichtes und Lebens werden; so trage ich keinen Kummer mehr um dich in meinem Herzen. Der das Wollen gibt, gibt auch das Vollbringen. Der vollkommene Gott kann nichts Unvollkommenes beginnen. Willst du der Blindheit los werden, so wirst du auch das Licht nicht fliehen, das deine Augen erleuchten soll. Willst du neues Leben, so wirst du das allmächtige Wort deines Gottes, das dir naht, auch in dir walten laßen. Willst du Gnade hier und Gnade dort, so wirst du den Gnadenmitteln vertrauend nahen. Hier liegt das ganze Geheimnis, du kannst nichts, Gott aber kann alles durch Sein Wort und thut alles durch Sein Wort. Entziehe dich nur dem Worte nicht: selbst wenn dein Wille unrein wäre, wenn deine Unreinigkeit und Halbheit im Wollen des Guten dich hindern sollte: entziehe dich nur dem Worte nicht. Ob heut, ob morgen, − ob langsam oder plötzlich, − ob sanft, ob unsanft, das weiß ich nicht; aber siegen wird es bei dem, der gerne hört und fleißig lernt, − die Gnadenzeit wird noch erkannt werden, ehe sie verrinnt, − die Zukunft wird offenbart werden, ehe sie kommt, und noch ehe es ganz zu spät, noch so lang es

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 068. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/407&oldid=- (Version vom 17.7.2016)