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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am dritten Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Luc. 15, 1–10.
1. Es naheten aber zu Ihm allerlei Zöllner und Sünder, daß sie Ihn höreten. 2. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murreten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an, und ißet mit ihnen. 3. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: 4. Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat, und so er deren eins verlieret, der nicht laße die neun und neunzig in der Wüste und hingehe nach dem verlornen, bis daß er es finde? 5. Und wenn er’s funden hat, so legt er es auf seine Achseln mit Freuden. 6. Und wenn er heim kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir; denn ich habe mein Schaf funden, das verloren war. 7. Ich sage euch, also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße thut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen. 8. Oder welches Weib ist, die zehn Groschen hat, so sie deren einen verliert, die nicht ein Licht anzünde und kehre das Haus und suche mit Fleiß, bis daß sie ihn finde? 9. Und wenn sie ihn funden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freuet euch mit mir; denn ich habe meinen Groschen funden, den ich verloren hatte. 10. Also auch, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße thut.

 AUs dem Evangelium des letztvergangenen Sonntags wißen wir, daß der gnadenreiche Gott so Heiden, wie Juden zu Seinem Reiche hier, zu Seinem Reiche dort beruft, herbeiführt, nöthigt. Das heutige Evangelium zeigt uns den Sohn Gottes selbst mitten unter Zöllnern und Sündern, wie er das seligmachende Werk der Berufung vollbringt. Daraus erkennen wir den großen Ernst der göttlichen Berufung. Denn wenn der HErr Sich nicht begnügt, Seine Knechte auszusenden und durch sie den Verlorenen sagen zu laßen: „Kommet, es ist alles bereit!“, wenn Er Selbst unter den Verlorenen wandelt und mit freundlichem Ernste sie von der Welt und Sünde zu sondern und Seiner Heerde beizufügen trachtet; so kann kein Zweifel an Seinem gnädigen Willen sein, zu deutlich spricht Sein Thun dafür, daß Er niemand verloren gehen laßen, sondern einen jeden zur Erkenntnis der Wahrheit bringen und selig machen will. Eine so unverkennbare Offenbarung des göttlichen Gnadenwillens gegen alle Sünder konnte freilich den Pharisäern nicht gefallen. Zufrieden mit sich selber, waren sie der Meinung, der HErr müße, so gewis Er Anspruch darauf machte, für den verheißenen Messias aufgenommen zu werden, ihnen vor allen Sein Wohlgefallen, andern, die nicht wie sie waren, Sein Misfallen bezeigen, Sich mit ihnen verbinden, mit ihnen gemeinschaftliche Sache machen, andere aber, zumal verrufene Sünder und Zöllner von Sich weisen und so wenig mit dergleichen Pöbel Gemeinschaft machen, als sie es selbst thaten. Im Selbstbetrug erheuchelter Gerechtigkeit war es ihnen etwas Unausstehliches, Gott als einen Hort der Verlorenen und Seinen Messias als Sünderheiland zu denken. Selbstgerechte Heuchler lieben das Verlorene nicht, suchen es auch nicht, freuen sich nicht, wenn es gefunden wird; ihr unreines, misgünstiges, neidisches, hochmüthiges Herz weiß in solchem Falle nur zu schelten und zu murren, wie wir denn auch von den Pharisäern und Schriftgelehrten lesen: „Sie murreten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und ißet mit ihnen.“ Daß der HErr durch ein solches Benehmen der Pharisäer und Schriftgelehrten in Seinem Thun nicht irre wird, versteht sich von selbst. Er kann nichts bereuen, was Er begonnen hat, weil all Sein Thun göttliche Weisheit ist und nach unwandelbarem Rath geschieht. Er ist einmal gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, und dabei bleibt es, es widerspreche die Erde oder die Hölle. Er hätte das Murren der Pharisäer und Schriftgelehrten mit

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 023. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/362&oldid=- (Version vom 1.8.2018)