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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

himmlische Geheimnis der Dreieinigkeit nur erinnert, hingegen über das irdische Geheimnis, deßen Erfahrung allen nöthig ist, die den Dreimalheiligen im Geiste und in der Wahrheit anbeten wollen, eine genauere Belehrung ertheilt. − Im Geist und in der Wahrheit will der Allerheiligste, der Drei in Eins ist, angebetet werden. Wer will Ihn also anbeten, so lange Er nur Fleisch von Fleisch geboren ist? Wie kann der arme Mensch, der da Fleisch ist, Ihn anbeten, wenn er nicht erst Geist aus Geist geboren ist, auf daß der Geist in ihm das Abba schreie und das Lob des ewigen Bräutigams entzünde?!

 Meine Brüder! Was unser Text von der Wiedergeburt lehrt, habe ich euch nach dem Maße, das mir beides der Reichtum des Evangeliums und meine kurze Zeit gebot, vor Augen gelegt. All der Inhalt des Textes geht euch näher an, als ihr vielleicht augenblicklich denket. Seid ihr doch alle als Kinder in eurer Taufe wiedergeboren und habt den Glauben und damit das neue Leben in euch getragen, das Gott in seinen jungen Täuflingen schafft. Aber den göttlichen Funken der Wiedergeburt haben zuerst, wie es zu gehen pflegt, die meisten Eltern vernachläßigt und ihn nicht, wie sie sollten, durch das Wort Gottes zu einer großen, das ganze Wesen läuternden Flamme erzogen. So gewöhnt, habt ihr hernach selbst des göttlichen Feuers nicht geachtet, das in euch war, und die heilige Glut mit der Menge eurer Sünden so zugedeckt, daß man unter dem Aschenberge, den ihr aufhäuftet, dieselbe kaum mehr merken konnte. Aber sie ist bei euer keinem völlig erloschen und erlischt auch wohl bei keinem ehe er stirbt. Das Werk der Taufe ist, als ein Gotteswerk, durch kein Menschenwerk ungeschehen zu machen: der HErr, der Bundesgott der Taufe, wacht darüber, so lange die Gnadenfrist währt, − und im Bewußtsein dieser großen Treue unsers Gottes, in Seinem Dienst und Auftrag erinnere und ermahne ich euch hiemit, daß ihr die in euch noch vorhandene Glut, die noch klimmenden Kohlen eurer Wiedergeburt nicht länger misachtet, sondern euch ihretwegen belehren laßet und durch sanftmüthige Aufnahme des göttlichen Wortes sie fortan erwecket, nähret und zur hellen Flamme anfachet. So wie ihr euer Ohr dem Worte zukehret, werdet ihr inne werden, daß Gottes Wort zu euch redet, als zu Geistern, die ihm von der Taufe her zugehörig sind; es wird euch je länger, je heimathlicher klingen, je länger je mehr euch zum Bewußtsein eurer Wiedergeburt zurück und zu demüthigem Danke bringen für alle die Treue, die euch euer Bundesgott gehalten, nach welcher er euch behütet hat vor einem bösen Tode und euch, bevor ihr stürbet, die Pforten eurer Jugend, eurer Taufe, eurer jugendlichen Seligkeit, ja einer ewigen Jugend weiter öffnet.

 Laßet mich diese Worte der Ermahnung nicht umsonst zu euch gesprochen haben. Es ist nichts Schweres, wozu ich euch zunächst vermahne. Das Wort annehmen und walten laßen, das ist alles! Ihr sollt stille sein, und der HErr wird euch ändern. „Ihr sollt von eurem Thun laßen ab, daß Gott sein Werk in euch hab.“ Das sollt ihr − und daß ihr Gehorsam leistet, dazu reize euch auch der Sonntag der allerheiligsten Dreieinigkeit. − Auch die himmlischen Geister, auch Cherubim und Thronen erforschen die Tiefen des göttlichen Wesens nicht. Die Gottheit ist − daß ich in winzigem Vergleiche von dem Allgegenwärtigen rede − gleichwie im Mittelpunkte eines Kreises, und wie des Kreises Umfang nach allen Seiten hin von dem Mittelpunkte gleichweit absteht, so ist aller Creaturen Aug und Verstand gleichweit von Gott entfernt. Der Unterschied in den Stufen der Gotteserkenntnis verschiedener Creaturen ist vor Gott selbst wie ein Nichts; der Cherub, der Mensch − sie sind beide Geschöpfe und kommen mit ihrer Erkenntnis nicht über den Umkreis und das Gehege hinüber, hinter welchem alle Creaturen Gott schauen. Aber ist gleich vor dem Auge des Allerhöchsten der Unterschied creatürlicher Erkenntnis nur ganz klein; die Creaturen selber haben ihn dennoch hoch und groß anzuschlagen. Ja, es muß der Mensch nicht bloß den Unterschied, der zwischen seiner Gotteserkenntnis und derjenigen der Engel ist, groß achten; sondern er hat auch Ursache, den Unterschied zwischen der Gotteserkenntnis, die er selbst hienieden und hernachmals im ewigen Leben hat und haben soll, so groß und hoch zu halten, daß er nach dem Maße der Erkenntnis in jener Welt von Grund der Seelen sich ausstrecke und verlange. Verlangt ihr nicht darnach? Die Gotterkenntnis jener Welt ist ein Schauen, die in dieser Welt nur ein Glauben: wollt ihr Gott nicht schauen, wie Ihn Menschen in jener Welt schauen können? Ihr müßtet völlig todt sein in Sünden, wenn euch

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 010. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/349&oldid=- (Version vom 1.8.2018)