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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am Sonntage der allerheiligsten Dreieinigkeit.

Evang. Joh. 3, 1–15.
1. Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern, mit Namen Nikodemus, ein Oberster unter den Juden. 2. Der kam zu JEsu bei der Nacht und sprach zu Ihm: Meister, wir wißen, daß Du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen thun, die Du thust, es sei denn Gott mit ihm. 3. JEsus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4. Nikodemus spricht zu Ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? 5. JEsus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand geboren werde aus dem Waßer und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6. was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist. 7. Laß dichs nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müßet von neuem geboren werden. 8. Der Wind bläset, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt, und wohin er fährt. Also ist ein Jeglicher, der aus dem Geist geboren ist. 9. Nikodemus antwortete, und sprach zu ihm: Wie mag solches zugehen? 10. JEsus antwortete, und sprach zu ihm: Bist du ein Meister in Israel und weißt das nicht? 11. Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, das wir wißen, und zeugen, das wir gesehen haben; und ihr nehmt unser Zeugnis nicht an. 12. Glaubet ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage; wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sagen würde? 13. Und niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel hernieder gekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist. 14. Und wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöhet hat, also muß des Menschen Sohn erhöhet werden, 15. auf daß alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

 EIn Pharisäer, ein Oberster der Juden, ein Mitglied des hohen Rathes, Nikodemus mit Namen, kommt zu JEsu bei der Nacht. Wie er selbst in der Anrede an den HErrn zu verstehen gibt, haben die Wunder JEsu einen starken Eindruck auf ihn gemacht, JEsum bei ihm beglaubigt, wie sie auch sollten, ihn geneigt gemacht, des HErrn genauere Belehrung und Unterweisung zu suchen. Es mag wohl Furcht vor den Juden gewesen sein, was ihn bei Nacht zu JEsu kommen heißt und ihn abhält, ungescheut, am lichten Tage zu kommen. Aber er kommt doch, und die Furcht ist doch seiner nicht so mächtig geworden, daß sie den Zug des Vaters zum Sohne in ihm hätte ertödten können. Dieser Zug des Vaters zum Sohne offenbarte sich in ihm nicht bloß als ein unbestimmtes Verlangen nach Belehrung. Wie es bei inwendigen Regungen gereifter Männer zu geschehen pflegt, wird auch Nikodemi Drang zu JEsu sich zu bestimmten Gedanken und Fragen an ihn geklärt und gestaltet haben. Gewis wollte er des HErrn Meinung insonderheit über diejenigen Dinge vernehmen, welche damals ganz Israel und nicht wenige Heiden bewegten, über das Reich, das da kommen sollte, und über den König des Reiches, den HErrn Messias, auf den man wartete. Das erkennen wir weniger aus der abgebrochenen Eingangsfrage des Nikodemus selbst, als aus der Antwort Christi, der auch sonst so oft in holdseligen Gesprächen den Rath der Herzen, die kleinlaut vor Ihm schwiegen, sich vor ihm verhüllten, oder doch nicht völlig öffneten, geoffenbart und zum Besten gelenkt hat. Sollten wir aber auch aus der Antwort des HErrn zu viel auf die Fragen Nikodemi zurückschließen, das bleibt denn doch gewis, daß die Rede des HErrn an Nikodemus und sein Gespräch mit ihm nichts anderes enthält, als eine Belehrung von dem Reiche Gottes.

 Ueber das Reich Gottes redet der HErr mit dem

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 003. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/342&oldid=- (Version vom 1.8.2018)