Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/332

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Zeit kommen sollte, wo die Israeliten an Seinem Leichnam die Wunden schauen und aus Seiner Herrlichkeit mit Schrecken merken sollten, in welchen sie gestochen hätten. Sollen sie dermaleins − in welch ferner Zeit es auch sei, Wunden, Stichwunden schauen, so mußte Er, noch ehe Er begraben wurde, − denn der neue Leib ist unverletzbar, die verhängnisvollen Wunden oder die verhängnisvolle Wunde bekommen. Und das geschieht, ohne daß irgend Menschen es geleitet und gelenkt hätten, durch Gottes wunderbare Vorsehung. Da kommen sie her, die rohen Kriegsknechte: was wißen sie, wer ihre Thaten lenkt und wie sie zur Ausführung göttlicher Weißagungen dienen müßen. Sie brechen nach Befehl den zwei Mördern die Beine, sie kommen zu gleichem Zweck zu JEsu − und siehe, Er ist schon todt. Offenbar braucht Er, um zu sterben, keine Gewalttat mehr. Man hätte Ihm nun zwar auch die Beine brechen können − auf alle Fälle, zur Vorsorge, weil es befohlen war. Aber das geschieht nicht − Gott lenkt es anders. Einer der Soldaten ergreift die Lanze und sticht dem Leichnam eine Todeswunde, groß genug, daß am auferstandenen Leibe Thomas seine Hand hineinlegen kann, und tief genug, um auf alle Fälle zu tödten, denn das war ja die Absicht. Und sieh, so war Pilati Befehl vollkommen vollzogen − und beide Weißagungen des Gesetzes und des Propheten. Und noch etwas ereignet sich, etwas Unerwartetes, Ungesuchtes: auf den Stoß floß reichlich Blut und Waßer aus der Wunde. Ein Todeszeichen war dies Blut und Waßer nicht, denn wenn aus einem bereits verstorbenen Leichnam Blut und Waßer fließt, so kann es eher Bedenken erregen, als bestätigen, weil todtes Blut nicht gerne fließt. Auch ist der Saft, welcher sich nach schwerem Leid im Herzen eines Sterbenden sammelt, des Namens Waßer nicht werth, während doch Johannes (19, 34.) versichert, Blut und Waßer sei herausgegangen, − Blut für sich und Waßer allein. Es ist hier etwas Wunderbares. Wäre Blut und Waßer nur erwähnt als Todeszeichen, so würde es als solches theils in der Geschichte mehr hervorgehoben sein, theils würde Johannes in seinen Briefen weniger hohen Tones von der Sache reden und zu anderem Zweck davon Gebrauch machen. Nun sieht aber jedermann, daß Johannes im Evangelium kein Wort von dem Blut und Waßer als Todeszeichen redet: der ganze Vorgang erhebt und erfüllt ihn nicht wegen der Todesgewisheit, welche damit gegeben ist, sondern wegen der herrlichen Erfüllung zweier Weißagungen − und der Blut- und Waßerfluß wird überhaupt, so bestimmt er erzählt wird, einen so ausgezeichneten Platz die Erwähnung davon in der Geschichtserzählung einnimmt, doch nur erwähnt und ohne alle Betrachtung vor Augen gelegt. Desto mehr aber ist der Vorfall 1. Joh. 5, 6. hervorgehoben − und zwar zu besonderem Zwecke, das Zeugnis Gottes von Seinem Sohne darzulegen. Da heißt es von Christo: „Dieser ists, der da kommt mit Waßer und Blut, JEsus Christus, nicht mit Waßer allein, sondern mit Waßer und Blut; und der Geist ists, der da zeuget, daß Geist Wahrheit ist.“ Und V. 7. heißt es wieder: „Drei sind, die da zeugen auf Erden: der Geist und das Waßer und das Blut.“ Kann man sich bei diesen Stellen enthalten, an den wunderbaren Vorgang am Leichnam JEsu zu denken? Sollte Johannes sein Absehen darauf nicht gehabt haben? Der HErr erhielt im Leibe des völlig Gestorbenen lebendiges Blut und verschaffte statt des Blutwaßers reines, elementarisches Waßer, auf daß die beiden Sacramente, in denen uns Sein Heil, wie im Worte gereicht wird, in ihrem Zusammenhang mit dem Tode JEsu erkannt würden. Das Waßer deutet auf die Taufe und zeigt uns, daß die Taufe aus dem Tode JEsu quillt; das Blut weist aufs heilige Mahl und zeigt uns den Brunnquell unsers Heils, Christum, den Gekreuzigten. Aus Seinem Tod quillt Leben − und alles Leben wird uns im Wort und in beiden Sakramenten gereicht. Laßen wir diese alte, dem Apostel selbst zukommende Deutung des Blut- und Waßerstromes unangetastet, es gibt keine beßere und würdigere. Steht sie, so ist der Blut- und Waßerstrom ein Geheimnis wunderbarer Art, vom Vater an des Sohnes Leib gestiftet, − und die heimliche Weisheit deutet es auf den schönen und erwünschten Zusammenhang aller Heils- und Gnadenmittel mit dem HErrn JEsu und Seinem gnadenreichen Tode.

.

 Vor meinem Auge steht Dein Kreuz, Dein Leichnam dran, HErr JEsu. Deines Vaters Hut und Wacht bewahret dir Deine Gebeine − aber Dein Herz wird geöffnet − da fließen Deine Schätze mir zu gut heraus, mir zur Salbung und zum ewigen Leben.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/332&oldid=- (Version vom 8.8.2016)