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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

könnte sagen, er ist charakterlos im Guten, aber charakterfest im Bösen, − oder er ist charakterlos in seinen einzelnen Handlungen aus großer Entschiedenheit im Bösen. Allerdings ist schon ein Wanken auf bösem Standpunkt beßer, als ein sicheres, unangefochtenes Ruhen auf demselben; aber wie man für einen Menschen sich bemühen und ihn bei der Nachwelt vertheidigen kann, der im erkannten Guten so schwach und im Bösen so stark war, daß er den Christus kreuzigen konnte, vor deßen Heiligkeit ihn schauerte, das weiß ich nicht. Ich finde mich weit mehr zum strengen Urtheil der Aelteren, als zum gemilderten der Neueren hingezogen. Ich sage es einfach und finde darin in mir eine Traurigkeit und Wehmuth, daß dieser Mensch, an dem der HErr unter Dornenkron und Purpurmantel, unter Blut und Speichel eine mächtige Seelsorge übte, nicht zu überwiegen war und nicht zum Preis der ewigen Gnade der zweite Schächer wurde, den der HErr in Seinem Sterben gewann. Denn vom Sterben aufgehalten hätte den HErrn auch kein gerechter Pilatus, dazu wäre die Wuth der Hölle zu groß und der Entschluß des ewigen Vaters zu fest gewesen.

 Dabei, meine Lieben, ist es mir wunderlich, daß man Pilatum als ein Bild der Charakterlosigkeit im Guten hinzustellen pflegt und sich dabei nicht gedrungen fühlt, auf das Volk der Juden und seine gleiche Schuld hinzuweisen. Oder thut man es, so scheint mirs schier zu wenig für dieß alles überwiegende Beispiel von Wankelmuth und Charakterlosigkeit, welches Israel gegeben hat, für dieß unerhörte Beispiel von nicht bloß sich getreu bleibender, sondern von zunehmender Festigkeit im Bösen und Wankelmuth im Guten. Es ist nicht natürlich, auch nicht bloß aus den Umständen und Verhältnissen zu erklären, wenn dort, am Palmensonntag dieß Volk so eifrig Hosianna singt. Gewis ist der Geist des HErrn auf dieß priesterliche Volk und königliche Priestertum gefallen wie auf den Hohenpriester Caiphas und hat es singen gelehrt wie Diesen weißagen. Je höher aber die Erhebung, desto tiefer die Erniedrigung. Denn eine Erniedrigung ohne gleichen ist es doch, wenn wir dieß Volk sein „Kreuzige“ rufen hören, wenn es mit den Hohenpriestern „Weg, weg mit Diesem“ schreit, wenn es Barabbam für bittenswerth erkennt, wenn es, dem heidnischen Richter die Hingabe an seine eigne Bosheit zu erleichtern, in frevelem, heillosem Uebermuth und Unverstand auf sich und seine Kinder die Blutschuld zu nehmen sich anheischig macht, welche an dem König Christus verdient wird! Fürchterlicher Wechsel! Die am Sonntage Werkzeuge des heiligen Geistes gewesen, erscheinen heute als Spielball des Teufels, ohne den auch Caiphas kein Kreuzige gefunden und das Lied: „Sein Blut komm über uns und unsre Kinder“ nimmermehr vorgesungen hätte. Möglich, daß ihr, meine Freunde, es nicht glaubt, daß Israel am Charfreitag unter höllischen Einwirkungen stand; ich glaub es fest und gewis, daß damals die „Macht der Finsternis“ das Volk umgarnte, an das hinan der HErr Seine letzten Reden ohne den Erfolg gehalten hatte, den sie hätten haben können und sollen. Glaubt ihrs nun auch nicht, so denkt euchs nur: am Sonntag ein Prophet, von dem heiligen Geiste getrieben, − am Freitag vom Teufel begeistert und zu dem furchtbarsten Bösen getrieben. Welch ein Wechsel! − Und erst ist dieser Wechsel nicht so zu denken, daß der Satan sich der Juden bemeistert habe, etwa wie er sich zuweilen der Leiber heiliger Menschen bemeistert und bedient hat. Ein Ruf wie der „Sein Blut komm über uns und über unsre Kinder“ kommt nicht in solchen Folgen, wie es am Tage ist, über Menschen, welche ihn unbewußt gethan haben. Es war kein böser Traum, kein Fieber, keine bloß von außen angehängte, innerlich nicht aufgenommene, oberflächliche, keine unzurechenbare Rede; sondern die Juden wußten, was sie thaten: der HErr stand unter ihnen − und wie, wie gewißenweckend und die Seelen aus des Teufels Banden aufmahnend, die Kräfte Seines Geistes webten. Israel wußte, was es galt − und rief dennoch: „Weg, weg mit Diesem“ − rief dennoch: „Kreuzige, kreuzige, Pilatus, du sollst die Schuld nicht tragen, wir nehmen sie auf uns und unsre Kinder!“

 Ist das nicht Hingabe ans Böse? Wenn die Juden früher böse, üble Knechte Gottes waren, sind sie jetzt nicht Satansknechte? Ist das nicht ein Triumph der Hölle − das heilige Volk in Satans Dienst und seinen König vom Satan zum Tode geschleppt zu sehen? − O Gegensatz des Sonntags und des Freitags!

 O Unbeständigkeit im Guten − o Möglichkeit des Bösen! O fürchterlicher Wechsel! Vor dem behüte uns, lieber HErre Gott! Amen.




Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/323&oldid=- (Version vom 8.8.2016)