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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Wort hat über die Leiber keine Macht. Der HErr aber hat Macht über alles Leibliche. So Er spricht, so geschiehts; Sein Wort, Sein bloßer Wille reicht hin, so treten Aenderungen, starke, gewaltige in der sichtbaren Welt ein − man erkennt, daß eine schöpferische Kraft sich regt und ein Mann wirkt, der der HErr ist. Blinde sehend, Lahme gehend, Aussätzige rein und Taube hörend machen − auch menschliche Aerzte und leibliche Mittel können das zuweilen bewirken. Wenn aber auch noch mehr geschehen könnte, wenn das Unmögliche gelänge, wenn gegen den Tod des Leibes ein Mittel gefunden würde: dem Thun des HErrn gegenüber, wäre es doch nichts: es wäre Kunst, Menschenkunst, Benützung irdischer Mittel, bei Ihm aber ist schöpferischer Wille, allmächtiges Gebot. Ob Er Petri Schwieger vom Fieber heilt oder Lazarum aus der Verwesung lebendig herstellt, ob Er vor unserm Auge das Kleinste oder das Größte thut, das ist gleich: wie Ers thut und aus welcher Macht, darauf kommts an. Er ist und bleibt immer und ewig nur Einer, unterschieden selbst von Aposteln und Propheten, die nur von Seinen Gnaden Wunder wirkten: Er lebt und übt mit Seinem Geist über alles Leibliche Macht aus.

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 Das Eine soll Johannes erwägen und dazu ein Zweites. „Den Armen wird das Evangelium gepredigt.“ − Das Evangelium wird gepredigt − eine gute Botschaft, welche zuvor unbekannt gewesen. Das Evangelium ist die Botschaft, daß der Verheißene erschienen, daß die Weißagung erfüllt, daß die Menschwerdung vollzogen, Gott im Fleische geoffenbart ist, daß nun eine neue Zeit beginnt, ein gnädig Jahr des HErrn, daß Gott Sich zu den Sündern in Seinem Sohne neigt, daß Himmel und Erde wieder verbunden sind und die Menschen Erben des ewigen Lebens geworden. Das war zuvor nicht gepredigt und konnte zuvor nicht gepredigt sein. Eine Botschaft kann doch nicht gebracht werden, ehe geschehen ist, was der Botschaft Inhalt sein soll; so kann auch die gute Botschaft der Menschwerdung und neuen Gnadenzeit nicht gebracht werden, bevor Gott Mensch geworden und die Gnadenzeit gekommen ist. Ist die Botschaft und ihr froher Schall vorhanden, so liegt schon darin Beweis genug, daß gekommen ist, der kommen sollte, daß JEsus Christus da ist. Das soll Johannes erwägen. Und erwägen soll er, daß diese Botschaft nicht bloß den Weisen und Reichen und Hohen, sondern allen, auch den Armen, den Bettlern, ja den Bettlern vornehmlich gepredigt wird, zum Trost in ihrer Armut und Verkommenheit. Das Evangelium hat also bereits angefangen, ein Gemeingut aller Menschen zu werden, der ersten und der letzten, insonderheit der letzten, der Armen. Wenn aber das der Fall ist, so ist ja nicht erst ein wenig geschehen, wie es dem Täufer im Kerker schien, und man kann von Zögerung nicht reden. Kaum zu gedenken, daß dieß Evangelium nicht bloß gepredigt wurde, sondern als ein Wort aus JEsu Munde auf die Geister wirkte, wie es einem Gotteswort geziemte, daß der HErr sich damit nicht minder als einen König der Geister erwies, wie er durch seine Wunder eine unbeschränkte Königsmacht über alle Leiber und über alles Leibliche kund gab. Oder ist etwa das Evangelium ein leeres Wort? Ists nicht an Würde und Wirkung groß, wie das „Es werde“ der Schöpfung? Ich will nicht auf den Bettler, auf den Armen in Machärus, auf Johannes selbst weisen, welchen die Kraft des Evangeliums stark und geduldig gemacht hat auch in der Schmach, durch die Wuth einer Herodias zu sterben, und in der Demüthigung die Krone des Martyriums aus den Händen einer blutigen Ehebrecherin zu empfangen. Ich könnte auf Magdalene, auf Zachäus, auf Matthäus, auf Petrus und Paulus weisen, an denen das Evangelium Wunder gethan hat. Ich könnte auf den Erfolg der apostolischen Predigt hinweisen, da zwölf arme Männer, nachdem sie durchs Evangelium innerlich reich geworden, die Königreiche der Erde mit einer wuchernden, unwiderstehlichen Saat eines neuen Lebens erfüllten und Tausende von Seelen für den Himmel eroberten? Ich will aber auf das alles und Aehnliches nicht verweisen. Ich will allein an die Zeit erinnern, da Johannes der Täufer im Gefängnis saß, da JEsus in seine Stelle getreten war. Wer kann, wer darf sichs anders denken, als daß schon damals viele Wunder an Seelen geschehen sind. Die Albernen sind weise geworden, die Traurigen göttlich froh, die Sünder heilig − und wenn wir die Namen und Beispiele dazu nicht nennen können, Johannis Jünger konnten es, und wenn sie ihrem Meister getreulichen Bericht erstatteten, so konnte seine willige Seele unschwer inne werden, daß das Reich gekommen war und eine neue Zeit großer Gnaden.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 017. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/28&oldid=- (Version vom 14.8.2016)