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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am Sonntage Sexagesimä.
2. Corinther. 11, 19.−12, 9.

 WEnn ein oberflächlicher Betrachter diese Epistel liest, so wird es ihn bedünken, als habe der Apostel Paulus einmal der Demuth vergeßen und dem alten Menschen auf eine merkwürdige Weise den Zügel schießen laßen. Zwar daß alles wahr sei, was der Apostel von sich selbst sagt, ist gar kein Zweifel. Die Versicherung: „So ich mich rühmen wollte, thäte ich darum nicht thörlich, denn ich wollte die Wahrheit sagen“ wird gewis von jedermann geglaubt. Aber es wird doch ziemlich allgemein angenommen, daß ein Mensch seine Thaten und Leiden um des Guten, um JEsu willen nicht heraussagen könne, ohne eine Sünde des Hochmuths zu begehen. Bekenntnis vollbrachter guter Werke und Hochmuth wird insgemein für unzertrennlich gehalten. Ob also nicht St. Paulus durch das Bekenntnis der Wahrheit von sich selbst gesündigt, des Hochmuths sich schuldig gemacht habe, das ist die Frage. Nun müßen wir freilich zugestehen, daß in Betreff gewöhnlicher, natürlicher Menschen die Besorgnis, sie möchten durch Aufzählung ihrer guten Werke Hochmuths schuldig werden, ganz gegründet ist. Aber mehr braucht auch nicht zugestanden zu werden. Warum soll es eine unmögliche Sache sein, eine löbliche That ohne Hochmuth zu gestehen? Und wenn es für Weltkinder unmöglich wäre, warum sollte es für Gotteskinder unmöglich sein? Sie kennen sich ja; sie wißen, was löbliche Werke sind; sie erkennen, wie wenig das Gute von ihnen stammen kann, wie es alleine zu Gottes Preise dient, wenn Sein Geist trotz ihrer Sündhaftigkeit durch sie etwas Gutes vollbringt; es ist ihnen eine ausgemachte Sache, daß alle ihre guten Werke Gotteswerke sind. Warum sollten sie also Gottes gute Werke verschweigen und zwar unter allen Umständen verschweigen müßen, bloß weil sie durch ihre Hand, nicht durch fremde Hand vollbracht sind, bloß weil sie die Gnade hatten, sie vollbringen zu dürfen, und den Willen, ihre Leibes- und Seelenkräfte dazu hinzugeben? Gute Werke, durch andere vollbracht, soll man anerkennen; warum nicht, was Gott durch uns selbst gethan? Ist es nicht dankbare Anerkennung und Lobpreisung Seiner Gnade und Güte, wenn man, wie St. Paulus, erzählt, was der HErr durch uns vollbracht hat? Und wenn nun gar, wie in St. Pauli Fall, für andere etwas dran liegt, daß Gottes in und durch uns wirkende, sich zu uns bekennende Gnade dargelegt und bekannt werde! Da kann es wohl für einen demüthigen Mann wegen fremder Misdeutung und eigener Liebe zur Stille eine Aufgabe sein zu reden, die er gerne umgienge; es kann Selbstüberwindung kosten, den Mund aufzuthun; aber es kann auch gerade ein Beweis demüthiger Ergebung in alles, was Gott von uns verlangt, sein, wenn man die mögliche Misdeutung nicht achtet, den Mund aufthut und bekennt, was Gott durch uns gethan.

 Wäre es nie möglich, anders als in Hochmuth von seinen Werken zu reden; so müßte es auch Hochmuth sein, Gutes, vom HErrn Gewirktes in sich zu erkennen. Und wenn das auch unausweichbar Sünde wäre, so würde es am Ende auch nicht wahr sein, daß Gott in Seinen Heiligen etwas Gutes wirkt, da gäbe es am Ende nichts Gutes im Menschen, eitel wäre die Lehre von den guten Werken. Man sieht, wohin es mit der Behauptung, daß es nicht möglich sei, ohne Sünde von sich Gutes sagen, kommen müßte. Gerade das Umgekehrte ist wahr, so gewis es auch ist, daß der immer wache Hochmuth unsers alten Menschen sich an den Ruhm der Werke Gottes hängt. Die Tugend ist kein leerer Name, die guten Werke kein Schein. Wenn Gott in uns wirkt, so sollen wir Ihm danken, also auch das, was Er in uns wirkt, als gut erkennen und uns desselben freuen. Es gibt, so wahr es gute Werke gibt, auch einen unschuldigen und heiligen Preiß deßen, was Gott durch uns gethan, und wohl dem, dem die Gnade verliehen ist, das Böse und Gute in sich zu scheiden und das Gute dankbar zu rühmen. Das ist heilige Kindereinfalt, zu welchem der HErr, der heilige Geist, Seinen Lieblingen verhilft.

 Zwar St. Paulus ist ausgezeichnet vor Tausenden und abermals Tausenden, ausgezeichnet durch Thun und Leiden und Offenbarung. Der HErr hat ihn zu einem Lichte gemacht, das weit in die Lande leuchtet. Je größeres Licht aber, desto größer und finsterer der Schatten. Es mochte deshalb für den heiligen Apostel

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/279&oldid=- (Version vom 14.8.2016)