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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Von der Krippe bis zum Kreuze sind wieder lauter Steigerungen der heilsamen Gnade. Jeder Fortschritt des Lebens JEsu bis zum Tode ist eine neue, hellere Erscheinung der heilsamen Gnade; vom Kreuze aber leuchtet diese Gnade doch am hellsten, und zwar im Augenblick des Todes JEsu. Da ists am allermeisten erschienen, wie ganz Er und Sein Vater nach dem menschlichen Heile strebten. Da vollbrachte JEsus, und nicht bloß für den einen und den andern, sondern für alle Menschen. Denn so weit geht die Gnade, daß sie in Zeit und Raum keine andern Grenzen sich stecken läßt, als welche die Menschheit selbst hat. So weit die Menschheit wohnt, so weit bricht die Gnade und ihre Segnungen aus. Der HErr läßt es in allen Landen von Kind zu Kindeskind verkündigen, daß Er für alle geboren und in Seiner Menschwerdung für alle erschienen sei. − Das lehrt uns die Epistel und verbindet also die Krippe mit dem Kreuze. Sie verbindet aber die Geburt auch mit dem endlichen Ziele der Menschwerdung und Geburt, des Kreuzes und Todes JEsu. Warum, zu welchem Ende ist Christus geboren? Zu welchem gestorben? Auf daß Er uns erlösete von aller Ungerechtigkeit und reinigte Ihm Selbst ein Volk zum Eigentum, das fleißig wäre zu guten Werken. Das ists, das ist die letzte Aussicht von der Krippe und vom Kreuze in die ferne Zukunft. Die Gnade wollte einen unverhofften, großen Sieg davon tragen: Eine erlöste, gereinigte, zu allen guten Werken fleißige Gemeinde, ein Volk des Eigentums wollte sie mitten unter ihren Feinden sich auslesen und sammeln. Die Kirche Gottes ist also das endliche Ziel aller Wege Gottes und unseres Heilandes. − Damit wir nun sehen, wie die Gnade Gottes von der Krippe bis zur Sammlung und Vollendung der Kirche fortschreitet, wird die heimliche Werkstätte der Gnade enthüllt und wir lernen die heilsame Gnade als eine züchtigende, das ist zum ewigen Heile erziehende kennen. Von Natur ist der Mensch in Anbetracht der ersten Tafel des Gesetzes voll ungöttlichen Wesens, in Anbetracht der zweiten voll weltlicher und weltförmiger Lüste, und was ist all sein Kampf gegen diese jammervolle, angeerbte Anlage? Ein Nichts, eine Eitelkeit. Da kommt aber die züchtigende Gnade und lehrt Verleugnung, lehrt uns, die angeborene Beschaffenheit nicht als ursprünglich, sondern als misziemend anerkennen, ihrer nichts achten und trotz ihrer züchtig, gerecht und gottselig leben. Sie lehrt uns züchtig, d. i. so leben, wie es Leuten gebührt, die hier nicht alles auszugenießen haben, die mit heiliger Besonnenheit die ewige Heimath im Auge haben und um ihretwillen gerne allem entsagen, was die Kinder der Welt nicht entbehren können. Gerecht lehrt die Gnade leben, d. i. so, daß man, reich in Christo, vom Mein und Dein der Erde nicht mehr in Leidenschaft gezogen, und gerade damit erst recht tüchtig wird, neidlos und leidlos das Mein und Dein auch in Dingen dieser Erde zu erkennen. Gottselig lehrt die Gnade leben, d. i. Gottes, Seiner Güte, Seines Vergnügens voll. Die Schüler der Gnade haben in Gott alles genug wie Jakob, und hüten sich drum nur davor, daß sie nicht verlieren, was sie haben, daß ihnen nicht ihr Gott misgünstig werden möge. „Sei Du mir nur nicht schrecklich, meine Zuversicht in der Noth,“ beten sie mit Jeremia.

 Solches alles wirkt die züchtigende Gnade und befreit also den Menschen von der eigennützigen, bösen Art der gegenwärtigen Welt. Sie lehrt ihn aber auch für die Zukunft leben, deren er von Natur am liebsten nicht achtete. Sie lehrt ihn warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unsers Heilandes JEsu Christi. Der Heiland in der Krippe und Seine Erscheinung in der Herrlichkeit, als Gott und Heiland der Seinen, das ist zweierlei. Jenes ist vorüber, ist der Friede der Erlösten, dieses ist ihre Hoffnung, auf die sie warten, sehnlich und verlangend warten sollen. Denn es ist nicht von einem Warten die Rede, da man gerne wartet und einem Wartens Weile nicht lang wird; sondern von einem solchen Warten hören wir, da wir mit brünstigem Auge und ausgestreckten Armen Dem entgegengehen, der da kommen soll.

 Die Krippe und das Kreuz, die Krippe und das Ziel der Menschwerdung und des Kreuzes, die Krippe und das endliche Heil aller Gläubigen, die Krippe und die züchtigende, zum endlichen Heile erziehende Gnade sehen wir in Verbindung. Die Krippe nicht allein, sondern im Zusammenhange aller Gotteswerke die Krippe im Mittelpunkt und ringsum Kreis um Kreis in immer weiterer Ausdehnung, ringsum immer mächtiger sich ausbreitende und vollendende Gnade zeigt uns unser Text. Es gehört alles zusammen, so

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/263&oldid=- (Version vom 8.8.2016)