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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Elisabeth, der heiligen Jungfrau Maria: er hatte nun selbst erkannt, daß JEsus ist der Christ, der Sohn des lebendigen Gottes. Er bekannte es auch frei und predigte von JEsu, daß Er sei Gottes Lamm und ein Richter der Welt. Das alles ist wahr, und Johannes hatte also viel menschliche Ueberzeugung und göttlich hohe Offenbarung, durch welche er sich in Anfechtung und Zweifel aufrichten konnte. Allein auch anderes ist wahr! Johannes ist im Kerker, er der sonst in der Wüste lebte, dem für die Fülle seiner Seele die freie Wohnung und die Stadt seines Vaters Zacharias zu eng gewesen war. Johannes feiert, er der sonst von Tag zu Tage Tausenden predigte und sie taufte, er der mit der Macht und dem Segen des größten Propheten zu wirken gewohnt war. Johannes ist im Kerker, getrennt ist er von JEsu, die Möglichkeit zu Ihm zu kommen ist ihm abgeschnitten, er kann bloß aus dem Munde seiner Jünger etwas von seinem HErrn vernehmen. Und was er vernimmt, es ist schön, es ist herrlich, aber es ist doch alles noch wie zur Zeit, da ihm vergönnt war, wie JEsus und mit Ihm zu wirken. Ihm schienen noch immer nur Anfänge dazusein. Er hatte wol gehofft, daß der HErr alsbald zur Vollendung eilen, zur Gründung Seines großen Reiches Ihm geziemende gewaltige Schritte thun würde. Wenn der Vorläufer schwiege und feierte (dachte er vielleicht), so müßte alsbald der HErr als HErr auftreten und königlich walten. Aber von dem allen nichts! Er selbst, der Täufer, ist gefangen und Christus zögert. Während seines ganzen Lebensganges war sein Auge immer fester auf JEsum hin gerichtet worden; je länger je mehr, je völliger hatte er sich ihm ergeben. Welch eine außerordentliche, einzige Lebensaufgabe war Johanni geworden! Nun hat er sie gelöst − sein Hosianna vor Dem her, der kommen sollte, vernahmen nur noch Kerkermauern; sein Werk ist zu Ende − und Christus zögert! Bei solchen Umständen konnte der Geist der Anfechtung Raum finden. Johannes fieng an, in quälende Zweifel zu gerathen, ja in quälende Zweifel, denn seine Freude war JEsus und der Glaube an Ihn. Kommt euch dieser Gang einer Johannesseele unglaublich vor? So frag ich euch: welcher Heilige hat keine Anfechtung gehabt? Ich mag das alte Testament durchgehen, so finde ich keinen Patriarchen, keinen Propheten, keinen Abraham, keinen Moses, keinen David, der nicht angefochten gewesen wäre. Ich mag das neue Testament durchgehen, so ist es gleich also. Die heiligen Apostel, die Mutter Gottes waren größer, als der Täufer; denn es ist der kleinste im Himmelreich größer: und doch haben sie alle ihre Anfechtungen gehabt, vor Pfingsten und nach Pfingsten. Und allein mit dem Character Johannis sollte eine Stunde, ein Tag, eine Zeit der Anfechtung unvereinbar sein? Dem Manne, welcher die Anfechtung erduldet, ist eine Krone des Lebens versprochen: warum soll sie unter allen Heiligen allein Johannes entbehren? Ist er doch nicht besiegt worden von seiner Anfechtung, sondern im Gegentheil, er hat sich in seinem bösen Stündlein benommen, recht wie es ihm geziemte. Sein Benehmen hat eine so nachahmenswerthe Schönheit, daß uns der Wunsch, Johannes möchte nicht angefochten worden sein, fast schwer werden könnte; denn wäre er nicht angefochten worden, so würden wir das edelste, männlichste Beispiel, die schönste Regel eines heiligen Benehmens in Anfechtung entbehren. Christi Versuchung und Sieg sind weit über unsern Sphären, wir verstehen sie nicht; unsre Versuchungen sind die Versuchungen Gefallener; uns steht ein versuchter Johannes näher und doch steht er zugleich so glänzend und hehr vor uns in seiner

Wahrhaftigkeit und Einfalt.

 Ein Mann, dessen Stärke anerkannt und über Zweifel erhaben ist, braucht seine Schwachheit nicht ängstlich zu verbergen: nur der Schwache sucht den Schein der Stärke. Der Schwache heuchelt sich stark, der Starke ist wahrhaftig. Sieh hier den starken Johannes! Bei ihm trifft diese Bemerkung zu. Er spielt nicht in der Stunde der Anfechtung den Starken. Er schämt sich nicht vor seinen Jüngern, geschweige vor JEsu, in seiner Anfechtung, in seinem Kampfe, in seiner Schwachheit gesehen zu werden. − Wie ganz anders so viele unter uns, die nur mit Erröthen und verlegener Bangigkeit unter ihren Brüdern wieder erscheinen können, wenn sie so vor ihnen einmal offenbar geworden sind, wie sie längst waren und wie man es doch vermuthen konnte, daß sie sein würden. Edle Wahrhaftigkeit, die allezeit ist, was sie kann, und es mit Frieden erträgt, wenn sie nicht immer sein noch erscheinen kann, wie sie gerne wollte! Diese Wahrhaftigkeit, und der Muth, sie zu üben, ist größer und herzgewinnender

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 015. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/26&oldid=- (Version vom 14.8.2016)