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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Gefühl der tiefsten Armuth, wie es bei armen Leuten auch sonst zu erwachen pflegt, wenn sie einmal Pflicht und Eifer treibt, mit recht vollen Händen zu geben. Es ist keine größere Liebeserweisung Gottes gegen die Gläubigen auszudenken als die einer persönlichen Einwohnung, und diese Einwohnung ist nun kein bloßer Wunsch mehr, sondern eine auf bestimmte Verheißung gegründete Hoffnung, und, ich will es nur sagen, weil ich darf und nach meinem Evangelium soll, eine volle Gewisheit aller derer, welche sich das Zeugnis geben dürfen, daß sie JEsum lieben und Sein Wort zu halten sich bestreben. Wenn nun einer unter euch sich dieß Zeugnis geben darf und er versucht, JEsu Versprechen auf sich anzuwenden und zu sich selbst zu sagen: „Der Vater, der Sohn und der heilige Geist wohnt in dir und du bist Seine Wohnung,“ welch eine große Gnade versucht er da, sich zuzuschreiben! Wie zittert, wie zagt da das arme Herz im Gedanken an die hohe Würde, die ihm beigelegt ist! Wenn nicht der HErr das Recht dazu gäbe, man würde unter keiner Bedingung es wagen, so etwas auszusprechen, sich so etwas zuzuschreiben. Wer, meine Freunde, wollte nicht gerne Sinais Pfingsten sei es auch unter Staunen und Schrecken mit durchlebt haben? Wer nicht die Zukunft Gottes zur Hütte des Stifts und zum Tempel Salomonis gerne geschaut haben? Wer würde nicht, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, Gottes Wohnung im salomonischen Tempel mit tiefster Ehrfurcht betrachtet haben? Aber siehe, was braucht es alles das? Gott ist in dir, wenn du JEsum liebst und Seine Worte hältst, du bist Sein Tempel; und wenn du drauf achtest, so werden dir auch, je länger du es thust, desto mehr Zeichen und Beweise entgegenkommen, daß es sich wirklich also verhält, daß Gott da ist, daß du ein wandelnder Tempel der allerheiligsten Dreieinigkeit bist. Die Einwohnung Gottes in dir wird nicht bloß ein Glaubensartikel, sondern auch eine Sache der seligsten Erfahrung sein. Nicht stolzer Uebermuth, sondern Dank einer durch die Last der göttlichen Gnade nicht bloß erfreuten, sondern auch gedemüthigten Seele wird es sein, wenn du es bekennst, daß der HErr in dir ist. Wenn dort Ignatius gegenüber dem römischen Kaiser sich Christophoros und Theophoros, d. i. Christusträger und Gottesträger nannte, so konnte ihm wohl der heidnische Kaiser darob zürnen, wir aber bewundern die demüthige Höhe seiner gottverlobten Seele und wünschen uns nur dasselbe gute Gewißen, dem edlen Kirchenvater nachreden zu können. − Liebe JEsu, Worthalten, von dem Vater geliebt werden, welch eine Herrlichkeit der Pfingstgestalt ist das! Aber wie wird das alles überboten von dem Zuruf Christi und der Apostel: „Gottes Tempel seid ihr!“ Können wirs auch tragen? Erträgt ein arm Gefäß auch eine solche Herrlichkeit? Die Freuden Deiner Einwohnung, dreieiniger, ewiger Gott?! − oder sollen wir sagen: Die Schrecken Deiner Einwohnung? Denn was ist der Mensch, daß Du sein gedenkest und des Menschen Kind, daß Du Dich seiner also annimmst! Staub sind wir und Sünder und dennoch berufen, Deine Tempel zu sein! − Ach gib uns, was Du uns gnadenreich verheißest, und walte dann Du Selber, daß wir es tragen und Dir würdig dafür danken können, daß wir unter der Last unsers Glückes auch wirklich glücklich sein und Deinen Namen nach Gebühr mit Freuden preisen können.


 Diese Pfingstgestalt der Kirche wirkt in uns der HErr, der heilige Geist, durch Sein heiliges Wort, denn die Liebe zu JEsu und ihren thätigen Gehorsam können wir in keiner andern Weise bekommen, als durch die Wirkungen des Wortes; welches, indem es uns darüber belehrt, alles, wovon es sagt, in uns herstellt. Und die Offenbarung daß Gott, der Dreieinige, uns liebt und in uns wohnen will und wohnt, wem danken wir sie, als Ihm, dem allerhöchsten Erklärer und Ausleger göttlicher und menschlicher Herrlichkeit? Alles Leben kommt uns auf den Flügeln göttlicher Worte und Gedanken vom Himmel ins Herz und es ist keine Stufe des geistlichen Lebens, welche nicht als eine Stufe neuer, fortschreitender Erkenntnis gedacht werden könnte und müßte. − Der HErr hatte Seinen Jüngern vollkommene und vollständige Belehrungen gegeben: aber Seine Belehrungen glichen den Samenkörnern, welche für den Frühling gesammelt und noch nicht ausgestreut sind, oder welche in der Erde liegen, aber noch nicht keimen und sproßen, wie sie sollen. Sie hatten in Christi Worten alles, was ihnen und der ganzen Welt zur Seligkeit nöthig war, und wenn der HErr sagt: „Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnet es jetzt nicht tragen,“ so ist es nicht so zu verstehen, als wären

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/248&oldid=- (Version vom 4.9.2016)