Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres | |
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Freud und Jubel sein. Er fühlt es, ohne JEsusliebe, ohne Liebesgedanken, Liebeslieder, Liebesworte, Liebesleben ist kein Pfingsten und überhaupt kein rechtes Leben. Die Erde hat verschiedene Klimate, die Luft mancherlei Temperatur, aber JEsusliebe, lebendige fleißige JEsusliebe ist die allgemeine Temperatur, das allgemeine Klima des Christentums. Selig, wer in ihren Regionen wohnen darf, wenn der HErr aus dem sehnenden Verlangen nach Seinem Pfingsten zum vollen Leben der Pfingsten führt.
Wohl dürfte mir, was den Inhalt des Gesagten anbetrifft, niemand widersprechen. Meine Worte gründen sich auf JEsu Worte. Aber weiter einen Schritt. Der HErr spricht: Wer Ihn liebe und Sein Wort halte, den werde Sein Vater lieben. Sieht das nicht grade aus, als hätten diejenigen Recht, welche den Werken und dem Verhalten der Menschen ein Verdienst zuschreiben? Die Jünger sollen JEsum lieben, dafür werde sie dann der Vater JEsu lieben: ist also nicht Gottes Liebe Lohn für unsre Liebe? Ist nicht die Liebe Gottes zu uns ein menschliches Verdienst? Gewis nicht, Brüder! Das Tichten des Menschen ist böse von Jugend auf, wie kann die heiligste Liebe aus menschlichem Tichten kommen! Der Mensch ist in Sünden empfangen, wie könnte die Liebe von ihm stammen! Aus dem Herzen kommen arge Gedanken, wie soll der heilige, starke Gedanke der Liebe aus dem Menschenherzen kommen! Was durch helle, unumwundene, allgemein verständliche Worte Gottes klar und gewis ist, kann nicht durch Worte umgestoßen werden, die verschieden klingen. Nicht aus den dunkeln die hellen, sondern die dunkeln Stellen aus den hellen zu erklären, ist gesunde Regel. Die Wahrheit aber ist diese. Es gibt eine gedoppelte Liebe Gottes, nach der ersten beruft Er uns durch Seinen Geist von der Finsternis zum Lichte, vom Haß zur Liebe, erfüllt Er uns mit Liebeslust und Liebeskraft; nach der zweiten, d. i. nach einer besondern Liebe, neigt Er Sich denen gnädig zu, welche dem heiligen Geiste in Seinem erstgenannten Wirken nicht boshaft widerstanden. Gott liebt die Welt, ehe sie Ihn liebt; denn also hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingebornen Sohn gab; die Kirche aber, die Seinen Sohn liebt, erfährt aus Seiner Liebesfülle mehr. Man geht aus Gnade in Gnade und darum aus Liebe in Liebe, aus Erfahrung in Erfahrung. Wem der HErr Liebe zu Seinem Sohne gegeben hat, den macht Er sofort − denn es ist alles Sein Werk − empfänglich für besondere Liebesergießungen Seines göttlichen Herzens. Das inwendige Leben, die Erfahrung göttlicher Liebe hat Stufen, zu deren Ersteigung man beim ersten Eintritt die Verheißung empfängt, die man aber doch nur nach und nach ersteigen kann. Ein Mensch, der ein fernes, großes Land erben würde, würde vom Augenblick des Erbantritts Besitzer desselben sein; aber genießen, erfahren würde er sein Erbe erst nach und nach in dem Maße, als er hineinträte, es kennen lernte, in und von ihm lebte. So auch das Christentum. Der Glaube besitzt alle Liebe, die Gott hat und gibt und alle Liebesgaben Gottes, aber Gott führt in den Reichtum Seiner Liebe die Gläubigen erst nach und nach hinein. So ist also, wo einmal der Tag der Pfingsten aufgegangen ist, kein Ende der Gnade und Liebe Gottes, immer vorwärts geht es, von Genuß zu Genuß, von Erfahrung zu Erfahrung.
Es ist aber die besondere Liebe des Vaters zu denen, welche Seinen Sohn lieben, in unserm Texte noch genauer benannt und beschrieben, als eine Einwohnung des Dreieinigen. Wer die Worte JEsu hält, der hält nicht allein Seine Worte, sondern auch die des Vaters und des Geistes. „Das Wort, das ihr höret, spricht ja Christus, ist nicht Mein, sondern des Vaters, der Mich gesandt hat.“ Und indem Er V. 26. sagt, daß der heilige Geist die Jünger alles des erinnern werde, das Er Selbst ihnen gesagt habe, beurkundet Er nichts anders, als daß des Geistes Wort Sein Wort, Sein Wort des Geistes Wort sei. Gleichwie nun das Wort nicht Werk einer einzelnen göttlichen Person, sondern gemeinsames Werk der allerheiligsten Dreieinigkeit ist; so wird denen, die JEsum lieben, auch nicht die Liebe und Liebesbeweisung einer einzelnen Person zugesprochen, sondern die Einwohnung der allerheiligsten Dreieinigkeit. „Wir, heißt es, Wir werden kommen und Wohnung machen.“ Bei diesem Liebesbeweise Gottes angekommen, fühle ich in mir ein Doppeltes, nemlich die Aufforderung, eine Lobrede des gnädigen Gottes und Seiner Heimsuchung zu beginnen, und zugleich das
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/247&oldid=- (Version vom 4.9.2016)