Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres | |
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Mein Wort halten, und Mein Vater wird ihn lieben, und Wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen. Wer aber Mich nicht liebet, der hält Meine Worte nicht. Und das Wort, das ihr höret, ist nicht Mein, sondern des Vaters, der Mich gesandt hat.“ − Diese heiligen, himmlischen Worte laßt uns in Andacht genauer betrachten.
Wie reich, meine Geliebten, steht die Natur an Früchten und Gütern Gottes! Wie schön glänzt der Himmel über der grünen Erde! Wie liebliche Lüfte wehen! Wie köstlich ist es, dieß alles wieder zu erleben und die Festtage der Erde zu feiern! Aber schöner, lieblicher, frühlingsmäßiger ist es dennoch, den Geist der Pfingsten in der Liebe JEsu zu erkennen, sein Wehen und Wirken in heiliger Liebe zu JEsu zu empfinden. Es ziehen viele Menschen durch die Welt, welche von dieser Liebe zu JEsu nichts inne werden, sondern verwundert fragen: „Wie kann man doch JEsum im eigentlichen Sinne und persönlich lieben!“ Und freilich, Er ist so ferne, so hoch, so groß! Menschlicher Verstand ermißt und begreift das nicht. Aber der Geist des HErrn wirkt dieß Wunder, ein Wunder der Augen, daß wir unsern HErrn JEsus überall erkennen, der Ohren, daß wir Ihn überall vernehmen, des Herzens, daß wir Ihn überall ahnen, persönlich gegenwärtig glauben, nicht ins Blaue hinein die Wellen herzgründlicher Neigung schlagen, sondern zu Ihm, als dem Mittelpunkte unsers Daseins und Lebens, gezogen werden. Das ist ein wunderbares Ding und doch ein wirkliches, JEsum nicht sinnlich wahrzunehmen, und doch Seiner persönlichen Nähe und Liebe so gewis zu sein, wie nur irgend eine Braut des Bräutigams gewis ist. O Liebe, die vor aller Welt Augen eine Thörin, und doch vor den Augen aller Engel die schönste Frühlingsblume im Reiche Gottes ist! O Liebe zu dem unsichtbaren König, heilige, unsinnliche, geistliche Liebe, wie selig sind deine Leute! Sie wandeln in einer Wonne dahin, von welcher die Wonne derer nur ein leiser Schatten ist, die auf köstlichen Auen stiller, glücklicher, mit immerwährendem Frieden gesegneter Inseln des Südens wohnen! Seliges Pfingsten der Liebe zu unserm HErrn und Heiland JEsus Christus, unaussprechliches Glück! Dagegen großes Unglück der Lieblosigkeit gegen JEsum! Es ist kein Pfingsten, wo keine Liebe ist, und es ist kein Pfingstgeist im liebeleeren Herzen ausgegossen!
Aber wie ists mit der Liebe? Verzehrt sie sich im eigenen Feuer, ist sie nichts als inneres, freudenreiches Leben, ist sie ohne Schein und Kraft nach außen, träg und ohne Segen für die Welt? Gewis nicht! Mit dem Vorausgehenden sollte allerdings gesagt werden, wie freudenreich sie sei; aber welche Liebe wäre denn gedankenlos und thatlos, welche schwelgte nur im seligen Gefühle? Keine unter allen; denn jede Liebe ergreift den ganzen Menschen. Darum sagt auch der HErr: „Wer Mich liebet, der wird Mein Wort halten.“ − Wenn Er von Seinem Worte spricht, meint Er nicht bloß einen Theil Seines Wortes, also nicht allein das Gesetz, aber auch nicht allein das Evangelium; Er faßt alles zusammen. Und wenn Er vom Halten des Wortes spricht, so redet Er auch wieder nicht bloß von der Befolgung des Gesetzes, sondern auch vom Auffassen Seines Evangeliums. Wer Sein Wort halten will, der muß es vor allem kennen und haben; es kann niemand etwas halten und bewahren, was er nicht kennt und nicht hat. Wer es aber hat und kennt, der muß, um es zu halten, in sein Verständnis dringen, es im Herzen bewegen, wie Maria, es nie vergessen, sich in keinem Geschäfte, in seiner Lage des Lebens seinem Einfluß entziehen, alle Seelenkräfte vom Worte durchgehen und durchwalten laßen, vom Worte denken, vom Worte reden, vom Worte handeln lernen, durchgängig und durchaus dem Worte gemäß werden. Ja gewis, meine Freunde, wer JEsum liebt, der kennt für die Erkenntnis keine höheren Gründe, fürs Handeln keine stärkeren Beweggründe, fürs Leiden keine stärkeren Trostgründe, als JEsu Worte. Wo das nicht ist, ist sicher keine JEsusliebe, denn man lebt auch sonst, bei jeder Liebe, nach Wort und Wohlgefallen deßen, den man liebt. Hast du darum wahre JEsusliebe, so wird dein ganzes Leben ein Ausspruch und Bekenntnis deiner Liebe, Schriftmäßigkeit, Wortgemäßheit wird dir Lebensgrundsatz, Lebensziel. − Es ist Pfingsten. Wie die lauen Lüfte die Welt durchsäuseln, so weht manchen eine Ahnung des Pfingstgeistes an, ein sehnendes Gefühl beschleicht ihn, Seufzer heben sich aus der Brust, er möchte gerne auch ein Pfingstchrist voll
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/246&oldid=- (Version vom 4.9.2016)