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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Sprache gehalten wurde, begann das harmonische Lied vom neuen Bunde kund zu werden. Von den durch Gottes Vorsehung gerade zusammengekommenen und anwesenden, in den verschiedensten Gegenden der Welt wohnenden, die verschiedensten Sprachen redenden Juden hörte einer um den andern die großen Thaten Gottes in seiner Sprache erschallen. Da ward kund, daß nun die Stunde gekommen war, den Fluch Gottes über Babel aufzuheben und einstweilen allen Sprachen einerlei Inhalt, nemlich die Thaten Gottes in Christo JEsu, zu verleihen, die Geister zu einem Lob und Preis, zu einer Wahrheit zu versammeln, bis endlich auch der Sprachen verschiedener Ton sich in eine, heilige Sprache auflösen würde. Was in immer weiteren und größeren Kreisen sich wiederholen sollte, Vereinigung der Menschen aller Zungen zu einerlei Sinn und Rede, das geschah hier zum ersten Male. Was von da an mit Macht hinausdrang zu allen Völkern, das ward im Tempel zu Jerusalem begonnen. Von da an begannen die Völker in Zions Licht zu wandeln und Erkenntnis des HErrn überströmt seitdem die Erde, wie das Waßer den Meeresgrund bedeckt. Die letzte große Stunde der Welt, der letzte Abschnitt ihres zeitlichen Bestehens, der Anfang eines neuen Lebens war gekommen. Die ganze Zeit und Geschichte der Kirche, heut ist sie entsprungen: Pfingsten ist heut noch, wie damals, denn noch immer feiert man wie damals die Ausbreitung und Gründung der Kirche. Der erste Pfingsttag war ein Geburtstag der Kirche, und jeder der seitdem entflohen, ist es nicht minder. Die Apostel, die Gläubigen der ersten Tage sind schlafen gegangen. Nicht mehr braust der Wind des ersten Pfingsttags, Flammen und getheilte Zungen und wunderbare Sprachengaben werden nicht mehr wahrgenommen. Insofern ist, was wir feiern, vorüber. Aber was durch die Apostel an den ersten Gläubigen wunderbar geschehen, das geschieht denn doch auch jetzt noch: durch der Zungen Gewalt werden die Völker aller Zungen zu einerlei Glauben gebracht, und siegreich, immer siegreicher dringt hindurch, was wir singen oder beten: „Komm, heiliger Geist, erfüll die Herzen Deiner Gläubigen und entzünd in ihnen das Feuer Deiner göttlichen Liebe, der Du durch Mannigfaltigkeit der Zungen die Völker der ganzen Welt versammelt hast in Einigkeit des Glaubens.“


 Diese fortgehende Bewegung der heiligen Kirche, die immer voller werdende Sammlung aller Versehenen zur einen Wahrheit und zur einen Heerde könnte man eine fortdauernde Pfingstbewegung mit vollem Rechte nennen, wohl auch eine Pfingstgestalt der Welt, die ja immer mehr ihre Auserwählten zur Kirche liefert. Aber eine Pfingstgestalt der Kirche könnte man sie nicht nennen, denn die Kirche ist ja die gesammelte Schaar der Erlösten und Berufenen, nicht die Schaar derer, welche erst gesammelt werden; sie sammelt zwar, aber sie wird nicht gesammelt; und wenn ich drum oben sagte, das heutige Evangelium rede seinem hervorstechendsten Theile nach von der Pfingstgestalt der Kirche, so ergibt sichs aus dem Gesagten, wie aus einer auch nur oberflächlichen Kenntnisnahme unsers Textes von selbst, daß unter der Pfingstgestalt der Kirche etwas ganz anderes verstanden werden müße.


 Wenn wir von einer Pfingstgestalt der Kirche reden, so reden wir allerdings von einer Gestalt, welche an dem ersten Pfingsttage zuerst ins Leben trat, von jenem Tage, von der Ausgießung des Geistes und dem ersten Wirken der heiligen Apostel ihren Ursprung nahm; aber wir reden nicht von einer äußerlichen Gestalt oder Erscheinung, auch nicht von derjenigen, welche wir am ersten Pfingstfeiertage sehen, sondern von der innern Gestalt der Kirche, wie sie sein soll und werden kann, wie sie auch bei den Heiligen Gottes sich bereits ausgebildet hat, − von jener Gestalt, die in den Worten des Brautliedes (Ps. 45.) angedeutet ist: „Die Braut ist herrlich inwendig,“ die nun in unserm Evangelio im vollen Glanz und aufgedeckter Herrlichkeit offenbart ist.

 Auch die Bußfertigen sind des HErrn und die im Anfang des Glaubens stehen, und die voll Verlangens um Rechtfertigung beten und sie erfahren, sind von Ihm hoch begnadigt. Aber Buße, Glaube, Rechtfertigung machen doch nicht die volle Pfingstgestalt der Kirche aus, sondern sind nur Wurzeln und Stamm des geistlichen Lebens. Die volle Pfingstgestalt der Kirche, der ganze heilige Schmuck, in dem sie durch Gottes Gnaden prangen soll und kann, liegt in den Worten Christi: Lieben − Worthalten − vom Vater geliebt − Gottes Wohnung sein. Denn so spricht der HErr: „Wer Mich liebet, der wird

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/245&oldid=- (Version vom 4.9.2016)