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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

auf die Menschheit fallen wird, das wißen wir nicht. Ueberhaupt liegt auf den Weißagungen des HErrn vom Ende, so drohend sie sind, so grauenhaft sie klingen, doch noch ein Dunkel, durch welches ihr erschrecklicher Eindruck sich mehrt. Sie warten auf ihre wörtliche und treffendste Erklärung, auf die Erfüllung. Bevor diese kommt, hat sie Gottes Hand selbst in eine Dämmerung eingehüllt, welche keiner menschlichen Bemühung weicht; wenn aber die Erfüllung kommt, wird man nicht nur klar erkennen, wie völlig sie zur Weißagung, sondern auch, wie völlig die Weißagung zur Erfüllung paßt, wie sie einander gleichsam decken.

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 Was so eben im Allgemeinen gesagt worden ist, können wir insonderheit auf die Zeichen des jüngsten Tages anwenden. Wer kann sich z. B. jetzt erklären, welcher Art die Zeichen am Himmel sein werden, aus welchen die Menschen die Nähe des letzten Kampfes erkennen sollen? Wer will uns sagen, was die Worte bedeuten: „der Himmel Kräfte werden sich bewegen?“ Was sind die Kräfte und was sind ihre Bewegungen? Dennoch aber sind die Worte Christi nicht so dunkel, daß man nicht behaupten könnte: die Zeichen werden völlig kenntlich sein, so wie sie kommen. Sie werden gewis als Zeichen des kommenden jüngsten Tages alsbald von allen denen erkannt werden, die sie erleben. Um sie zu verhüllen, um sie unkenntlich zu machen, sind sie gewis nicht geoffenbart. Die Zeichen am Himmel werden, obschon sie nicht genauer beschrieben sind, sich von allem unterscheiden, was man früher am Himmel wargenommen: das Meer wird nicht brausen, wie jetzt, sondern es wird ein Brausen sein, deßen Zusammenhang mit dem Ende augenfällig und, wenn man so sagen dürfte, ohrenfällig sein wird; und die Angst und Furcht der Menschen wird gleichfalls von einer solchen Art sein, daß man sie nur aus dem kommenden Ende der Welt wird deuten können. Der Geruch des letzten Tages wird aus allen Zeichen desselben duften und sich verbreiten. Ist aber das wahr, − wie denn die einfache Betrachtung unsers Textes ohne Zweifel dazu dringt, es so zu nehmen; so ist damit auch wahr, daß jene Zeichen nicht Jahrhunderte hindurch andauern können, wie manche lehren. Wären sie kenntlich und dauerten Jahrhunderte hindurch, so würde es nicht wahr sein können, daß der jüngste Tag „wie ein Fallstrick über alle kommt, die auf Erden wohnen.“ Aus den Zeichen des Tages wird man erkennen, daß der Tag selbst im Anbruch ist; sie werden als das Rauschen des Fallstricks erkannt werden und dem voranrauschenden Ton wird der Fallstrick selbst unverweilt nachfolgen. Ja, die Zeichen des Tages und der Tag selbst, der ein Fallstrick ist, werden unaufhaltsam aufeinander folgen. Kenntlich, plötzlich, kurz wird sein das Nahen des jüngsten Tages und seine Zeichen. Oder wird es gemäß unserm Texte anders sein? Kann man dem HErrn bei Offenbarung der Zeichen des jüngsten Tages eine andere Absicht unterlegen, als sie kenntlich zu machen für das Geschlecht, das dann leben wird? Wie aber paßen kenntliche Zeichen und ein plötzlich Kommen des Endes zusammen, wenn nicht auch die Zeichen plötzlich und kurz in die Welt hineinfallen sollen? Die gerne über Zahlen brüten und den jüngsten Tag berechnen wollen, werden uns widersprechen. Aber wird denn ihr Widerspruch hoch anzuschlagen sein? Sie wißen doch allzumal nichts bis auf diese Stunde; kein Exempel hat die Probe einer kurzen, nachfolgenden Zeit bestanden, geschweige daß es die Feuerprobe des jüngsten Tages selbst aushalten sollte; diese Exempel sind Phantasien in Zahlen, wie man sonst in Bildern phantasirt, und meist nicht höher zu achten, als jede Phantasie, die von der Wahrheit weicht. Es ist noch heute − und wird sein bis die Zeichen des Tages erscheinen, wie es gewesen ist bisher: niemand weiß des HErrn Tag und Stunde, auch nicht die Engel im Himmel. Wir wißen nichts! Daß selbst der Menschensohn in Seiner Niedrigkeit Zeit und Stunde nicht wußte, kann uns in unserer Unwißenheit trösten, die Rechner aber und ihren Fürwitz beschämen. Daß der Menschensohn im Stande Seiner Erhöhung Tag und Stunde weiß, beweist die heilige Offenbarung, die Er St. Johannes gegeben hat, in der Er von Zeit und Stunde so vielfach redet; aber es ist aus dieser Offenbarung so wenig, als aus unserm Texte zu schließen, daß vor dem Kommen der großen Zeit und allergrößten Stunde, vor den Zeichen, die vor ihr hergehen werden, wie das Licht vor dem Feuer, die Zeit und Stunde berechnet werden könnte. Wir sind hier auf Erden, wie der Menschensohn auf Erden gewesen ist: wir sind im Dunkel. Was hilft Sinnen und Forschen? Wenn es Zeit sein wird, wird es kein Forschen und Sinnen bedürfen: dann werden an dem eigenen bangen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 008. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/19&oldid=- (Version vom 14.8.2016)