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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

des HErrn am Kreuze, an die Gottes- und (wenn es erlaubt ist, solche Gegensätze zusammen zu nennen) an die Satanstiefen, welche sich in der Nacht des Charfreitags verbargen, an das scheinbare Unterliegen deßen, den die Schlange in die Ferse stach. Diese Erinnerungen werden hinreichen, glaublich zu machen, welche ganz andere und viel schwerere Angriffe des Teufels unser HErr noch zu erdulden hatte. Aber Er überwand sie alle und Sein Sieg wurde offenbar, als Er prächtig hinunterfuhr zur Hölle, als der Stärkere in den Palast des Starken brach, ihm seinen Raub abnahm, das Gefängnis gefangen nahm und auszog die Fürstentümer, sie zur Schau trug und einen Triumph aus ihnen machte. Die Versuchung in der Wüste war nur ein Anfang und Vorspiel aller der heißen Kämpfe, welche des HErrn warteten, und man gedenkt billig am Eingang der Fastenzeit des Anfangs aller Versuchungen unsers Erlösers, damit das Volk die Leiden JEsu von einer Seite anschauen lerne, die man gern vergißt, die aber grade recht tiefe Blicke in den schweren Kampf und in die unaussprechliche Gnade und Erbarmung thun läßt, welche den HErrn von Seinem Himmel ins Elend trieb und Ihn bei Seinem ganzen Kampf und Streit bis zum Siege leitete und drang. Denn wir sind alle ins Reich des Bösen hereingeboren und die Einflüße desselben umgeben uns mehr als wir wißen und gerne glauben. Die Menschen, welchen kein himmlisches Licht gegeben ist, ahnen es kaum, wie wachsam und eifrig bemüht das böse Reich ist, sich zu erhalten, was zu seinem Gebiet gehört; die aber aufgewacht sind von der angeborenen Blindheit, sehen anders und fühlen anders − sie fühlen die Netze der Versuchungen, und ihre Ruhe und Freude mitten in Gefahren gründet sich darauf, daß Christus auch versucht war und gesiegt hat, gesiegt in ihrem Namen, gesiegt zu ihrem Heil. Sie rufen sich gerne zu: „Er ist versucht wie du, Sein Arbeit bringt dir Ruh, Sein Sterben ist dein Leben, Willst du dich Ihm ergeben, So wird Sein heilig Büßen Dir all dein Leid versüßen.“ − Daß wir einander in dieser Weise zurufen können, daß wir mit diesen Worten nicht lügen, sondern göttliche Wahrheit sprechen, dafür sei Ihm Dank, dem König und Trost aller Versuchten, an diesem Gedenktag Seiner Versuchungen und Siege!


 Ja, Ihm sei gedankt, Ihm sei Preis! Aber auch unvergeßen sei, daß wir beßer nicht danken und preisen können, als wenn wir dem HErrn in unsern Versuchungen treulich nachfolgen. Es ist eine Wahrheit, welche von der großen Würde aller Christen Zeugnis gibt, daß wir in dieser Welt sind wie Er, daß wir an unserm Theil zu thun und hinzunehmen haben, was Er. Der heilige Apostel redet von noch übrigen Leiden Christi, welche die Gemeine zu erstatten habe, und Sein eigener heiliger Mund beruft uns, Ihm nach das Kreuz zu tragen. Zu diesem Kreuz und Leiden gehört denn auch ohne Zweifel, daß der überwundene Satan seine List und noch übrige Gewalt ohne Ende wider Christi Glieder kehrt und sie versucht, wie er Ihn versuchte.

 Erinnern wir uns, wie Er namentlich in unsern Tagen so viele, so gar viele durch Mangel des täglichen Brots in Versuchung führt! Ach wie viele Arme, Darbende, Hungernde, Bloße, Nothleidende gibt es, die uns erzählen könnten, wie Er ihnen oftmals ihre Noth zur Falle und Schlinge legt! Und wie viel Reiche gibt es, deren einer mehr einnimmt, als tausend Arme, die aber dennoch fürchten, mit ihren Planen und Geschäften stecken zu bleiben! Sie sind reich und vielbeschäftigt, aber was ist alles ihr Thun, wenn doch die Sorge nicht von ihnen läßt, sondern mit festeingeschlagenen Klauen auf ihnen sitzt und Blut und Kraft aus Leib und Seele saugt? Sie sind in Versuchung gleich dem ärmsten Armen. Ach, es ist allenthalben Noth! Es wird erzählt, daß ganze Flecken verarmen, daß Massen von Einwohnern in den Städten der bettelnden Armuth entgegengehen. Ach, da gibts Kämpfe, Thränen, Klagen, Nöthen, Versuchungen zur Selbsthilfe, zu ungerechter Hilfe! Wer kann das Elend und die Versuchungen Tausender ausreden! Oder soll man sagen „das Elend Aller?“ Denn wen, er sei reich oder arm, hat nicht sein täglich Brot schon geängstigt? Wem ist es nicht schon irgendwie zur Versuchung geworden?

 Und so schwer diese Versuchung auf unserer Zeit lastet, so weit sie sich verbreitet, die zweite, mit welcher der Teufel den HErrn versuchte, ist doch nicht minder da, ich meine die Versuchung eitler Prunksucht. Ansehen, Ehre, Lob − ja wohl, wer wäre dafür nicht empfänglich? Es gibt Leute, welche alle ihre Nebenmenschen verachten, aber nicht deren Lob und Ehre. Man sollte erwarten, sie würden sich durch das Lob so verächtlichen und von ihnen wirklich verachteten

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/139&oldid=- (Version vom 28.8.2016)