Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/137

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Zweifel. Christus in Versuchung − das ist ja des heutigen Evangeliums kurzgefaßter Sinn, ein Sinn und Gedanke, durch welchen der Geist so hingenommen und in die Betrachtung gezogen werden kann, daß ihm manche vielbesprochene Einzelheit des Textes wie verschwindet. Denn was liegt dran, wie z. B. der Satan den HErrn auf des Tempels Zinnen zur Versuchung geführt, oder was für ein Berg das gewesen, von welchem aus er Ihm die Reiche der Welt gezeigt hat, oder wie es möglich gewesen ist, von irgend einem Berge der Welt Herrlichkeit zu zeigen? Auf diese Fragen läßt sich mancherlei Antwort geben und wir können wählen, welche wir wollen, ohne daß wir einerseits volle Gewisheit erlangen, andererseits eine wichtige Wahrheit daran ergreifen mögen. Es liegt an diesen Antworten wenig; aber das ist eine große, für alle Menschen wichtige Nachricht: „Christus ist versucht“ − oder daß wir sie gleich mit apostolischer Vollkommenheit geben, wie wir sie Ebr. 4, 5. 1. Petr. 2, 22. Joh. 8, 46. finden: „Er ist versucht allenthalben gleichwie wir, doch ohne Sünde.“

.

 Ist es nun eine ausgemachte Sache, daß unser HErr versucht werden konnte, so müßen wir auch Angesichts unseres heutigen Textes gestehen, daß der Satan mit berechnender, schlauer List Zeit und Umstände gewählt hat, in denen er seinen Anlauf auf den HErrn wagte. Ehe der HErr vom Geist in die Wüste geführt wurde, war Er von Johannes am Jordan getauft worden und der Vater und Heilige Geist hatten sich zu Ihm und für Ihn auf eine Weise bekannt, wie es weder jemals einem Menschen geschehen ist, noch auch ferner einem geschehen kann. Nun aber hatte Er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet − und nach so langem Fasten mußte Ihm der arme, einsame Aufenthalt in der Wüste, unter wilden Thieren (Marc. 1, 13.), in bittrem Hunger so recht in einem großen Gegensatze zu der Herrlichkeit und Freudenfülle Seines Tauftages erscheinen. Er war ja immer noch derselbe, wie am Tauftag, in vierzigtägigem, vierzignächtigem Gebete war Er dem Vater, war der Geist Ihm nicht ferner geworden, im Gegentheil, welch eine selige Vereinigung mit dem Vater und Geiste wird der HErr die vierzig Tage inne worden sein und geeifert haben! Und nun doch diese Armuth, diese Verlaßenheit, diese Entblößung von allem Nothwendigen! In der Zeit dieses sich kundgebenden, klaffenden Gegensatzes tritt der Versucher zu dem Menschensohne und fordert Ihn zu Dingen auf, welche ein beschränkterer Geist, als der unseres HErrn wenigstens theilweise − denkt an die Verwandlung der Steine in Brot! − kraft der Erklärung des Vaters am Tauftage, sogar als dem Menschen- und Gottessohne zustehend und geziemend ansehen konnte. In einer wie ganz andern Lage war unser HErr, als Adam und Eva bei der Versuchung im Paradiese. So groß und erhaben man sich Adam und Eva im Paradiese denken mag, so richtig es auch ist, von der Erklärung des göttlichen Wohlgefallens an der vollendeten Schöpfung einen großen Theil, ja einen sehr großen dem ersten Menschenpaare zuzuwenden: es bleibt denn doch immer ein himmelweiter Abstand zwischen Ihm und dem zweiten Adam, zwischen der Erklärung des göttlichen Wohlgefallens am Ende der Schöpfung und jener andern am Tauftag JEsu. Unser HErr war ja der Würde nach dennoch ein König, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden zugehörte, obgleich Er Sich Seiner Herrlichkeit entäußert hatte; Er hätte keinen Raub begangen, wenn Er Sich eine göttliche Herrlichkeit beigelegt hätte, − auch würde Er nicht als mit fremder Beute und Siegsgewinn einhergeprangt sein, wenn Er Seine Herrlichkeit vor allen Menschen glänzend ausgelegt und offenbart hätte. Er war über alles erhaben, so konnte Ers auch zeigen. Aber nein! Er ist größer als Adam − und in einer ganz andern Lage, welche Ihn gleichfalls hätte locken können, den Reichtum Seiner Macht zu erproben: Er thut es aber dennoch nicht! − In einer ganz andern Lage als Adam und Eva war der HErr. So sagte ich, und das ist auch wahr. Er war größer als das erste Menschenpaar − und doch mit Willen kleiner. Adam war zu einem Herrn über alle Creaturen gesetzt, es dienten ihm alle Creaturen, jedes Gewächs trug ihm fröhlich seine Frucht! er war in einem Zustand des Reichtums und der Fülle, da ihm der Versucher nahte. Ganz anders JEsus. Nicht ein wonnevolles Paradies umgab Ihn, sondern eine traurige Wüste, − nicht demüthig gehorchende, sondern wilde Thiere sah Er in Seiner Nähe, und statt der Fülle hatte Er Hunger. Die Größe − die Entbehrung und große Armuth konnten den HErrn auffordern, Sich zu helfen. Selbst der vierzigtägige Umgang mit dem Vater konnte einen Grund abgeben, die einwohnende Kraft zur Selbsthülfe zu versuchen. Es war in der Lage JEsu vieles, was dem

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/137&oldid=- (Version vom 28.8.2016)